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Der Mann, der seine Frau vergaß

Der Mann, der seine Frau vergaß

Titel: Der Mann, der seine Frau vergaß
Autoren: John O'Farrell
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U-Bahn-Waggon wieder in Bewegung, und mir wurde bewusst, dass ich nicht die leiseste Ahnung hatte, wohin ich wollte. »Hounslow East« stand auf dem Schild vor dem verschmierten Fenster, als der Zug von Neuem hielt, doch es stieg niemand ein oder aus. Vielleicht handelte es sich ja nur um einen vorübergehenden Blackout; vielleicht verspürte dieses gähnende Nichts ja jeder, der nach Hounslow East kam.
    Aber dann wurde mir klar, dass ich nicht nur nicht wusste, wohin ich unterwegs war, sondern mich auch nicht entsinnen konnte, woher ich kam. Will ich zur Arbeit? Was bin ich von Beruf? Ich habe keine Ahnung. Panik kroch mir ins Genick. Mit mir stimmt etwas nicht; ich muss nach Hause, mich ins Bett legen. Nur: Wo ist »zu Hause«? Ich weiß nicht, wo ich wohne. Denk nach! Denk nach – gleich fällt es dir wieder ein!
    »Na los …«, sagte ich laut und wollte mich mit meinem eigenen Namen anreden. Aber ich konnte den Satz beim besten Willen nicht beenden; er war wie eine Leiter, der eine Sprosse fehlte. Ich suchte nach einem Portemonnaie, einem Terminkalender, einem Handy, irgendetwas, das mir die Erinnerung zurückbringen konnte. Meine Taschen waren leer – nichts, nur ein Fahrschein und ein wenig Geld. An meiner Jeans klebte ein Tropfen roter Farbe. »Wie die wohl da hingekommen ist?«, dachte ich. Mein Gehirn hatte einen kompletten Neustart durchgeführt und dabei sämtliche alten Dateien gelöscht.
    Zeitungsfetzen lagen auf dem Boden des Waggons verstreut. Ich sah den Riss im Bezug der Sitzbank gegenüber. Mein Verstand verarbeitete in Bruchteilen von Sekunden unglaubliche Datenmengen, verschlang Werbeslogans und Schilder, die die Fahrgäste anhielten, nach verdächtigen Gepäckstücken Ausschau zu halten. Doch als ich auf den Streckenplan starrte, musste ich feststellen, dass sich zwischen diesen neuen Gedankengängen und dem Netzwerk keinerlei Verbindung herstellen ließ. Die Synapsen in meinem Kopf hatten wegen Renovierung geschlossen; die Neuronen steckten auf Grund einer Signalstörung am Bahnhof King’s Cross fest.
    Vor Angst wäre ich am liebsten davongelaufen, aber so leicht wurde ich dieses Problem nicht wieder los. Verwirrt ging ich in dem leeren Waggon auf und ab und fragte mich, was ich tun sollte. An der nächsten Station aussteigen und jemanden um Hilfe bitten? Oder gar die Notbremse ziehen, in der Hoffnung, dass der jähe Halt meinem Gedächtnis einen Ruck geben würde? »Nur ein klitzekleiner Aussetzer«, sagte ich mir. »Das geht vorbei.« Ich setzte mich, kniff die Augen zu und presste die Hände gegen die Schläfen, als könnte ich meinen Verstand so wieder in Gang bringen.
    Plötzlich war ich zu meiner Erleichterung nicht mehr allein. Eine attraktive Frau bestieg den Zug und setzte sich mir schräg gegenüber, ohne mich eines Blickes zu würdigen.
    »Entschuldigen Sie«, sagte ich hastig. »Aber ich habe das dumpfe Gefühl, ich werde verrückt.« Womöglich stieß ich sogar ein irres Lachen hervor. Die Türen hatten sich noch nicht wieder geschlossen, da war sie auch schon auf und davon.
    Dem Streckenplan entnahm ich, dass der Zug am Flughafen in einer Schleife wendete. Wenn ich in die Richtung zurückfuhr, aus der ich gekommen war, erkannte ich vielleicht einen Bahnhof oder ein Gebäude wieder, an dem ich mich orientieren konnte. Außerdem stiegen in Heathrow bestimmt jede Menge Leute zu; da würde sich doch gewiss jemand finden lassen, der mir weiterhelfen konnte? Doch als wir am Terminal 2 in Heathrow hielten, war der Waggon im Handumdrehen brechend voll, und ich hockte eingeklemmt zwischen mit Unmengen von Gepäck beladenen Touristen, die in hundert verschiedenen Sprachen durcheinanderredeten, von denen ich keine einzige verstand. Ich registrierte jeden Knopf an jedem Hemd, hörte hundert verschiedene Stimmen auf einmal – alles war zu laut, die Farben zu grell, die Gerüche zu intensiv. Ich saß zusammen mit Tausenden von Leuten in einem U-Bahn-Zug, der auf der immergleichen Strecke verkehrte, und doch fühlte ich mich so einsam und verloren, wie sich ein Mensch nur fühlen kann.
    Eine halbe Stunde später stand ich im Getümmel einer Bahnhofshalle und suchte auf der Anzeigetafel nach einem Rückweg in mein altes Leben. Pfeile wiesen zu den Bahnsteigen, Dutzende von Schildern zeigten allerlei Reiseziele an, während unablässig Informationen über Bildschirme liefen und verzerrte Lautsprecherdurchsagen meine Trommelfelle traktierten. Vor einem Schalter, der »Auskunft« versprach,
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