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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt
Autoren: Al Shaw
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Sie das Richtige tun?«
    In seinen Kindheitserinnerungen an diesen Ort war Dot schon immer genauso greisenhaft gewesen wie heute. Er entsann sich, wie sie sich zum ersten Mal begegnet waren, er selbst nicht viel mehr als ein kleiner Knirps. Damals war die alte Frau seinen jungen Augen absurd, beinahe grotesk erschienen, kaum wie ein Mensch.
    »Nein«, erwiderte er, »aber jemand muss es versuchen und es sollte nicht Elsa sein.«
    »Vielleicht kann ich Ihnen etwas mitgeben?«
    Er lachte. »Was kann ich dafür schon brauchen, außer meinen eigenen zwei Beinen?«
    »Wie wär’s mit einer Geschichte? Als Ihr Vater damals hier raufkam und seine langen Diskussionen mit der Äbtissin führte … na ja, manchmal war ich bei diesen Gesprächen dabei.«
    »Verzeihen Sie, Schwester, aber Geschichten über meinen Vater helfen mir im Moment wohl kaum weiter.«
    Dot ignorierte seine Worte. »Meistens ging es ums Geschäftliche, aber ein Mal war Pfarrer Fossiter gekommen, um etwas zu beichten.«
    »Beichten?«
    Dot holte tief Luft. »Dass Ihre Mutter, als sie Thunderstown verlassen hat, nicht nach Paris oder Delhi oder Peking oder sonst wohin gegangen ist. Sie ist an einen Ort gegangen, der näher und ferner zugleich ist. Zurück an den Ort, von dem sie gekommen war.« Sie legte Daniel eine knochige Hand auf den Arm und deutete mit der anderen nach oben. »Dorthin, Daniel. Aber das hatten Sie ohnehin schon vermutet, nicht wahr?«
    Er nickte stumm.
    »Ihr Vater sagte, er habe sich in eine Hexe verliebt. Das war es, was er uns beichten wollte. Einen ›Dämon der Luft‹ hat er sie genannt. Anfangs, sagte er, habe er sie für einen Engel gehalten, doch mit der Zeit habe er immer deutlicher erkannt, dass sie der Teufel war, denn sie stellte sich stets auf die Seite des Wetters.«
    Daniel ballte die Hände zu Fäusten und verfluchte den Aberglauben seines Vaters.
    »Natürlich«, fuhr Dot fort, »war sie weder der Teufel noch ein Engel. Sie war vollkommen normal. Auf dieser Erde existieren dreitausend Menschen von ihrer Art.«
    Daniel hielt inne, um ihre Worte auf sich wirken zu lassen, doch er musste feststellen, dass sein Bewusstsein ihn längst darauf vorbereitet hatte. Es war, als hätte es dieses Geheimnis die ganze Zeit über gekannt. »Wenn das wahr ist«, er kratzte sich am Kopf, »müsste ich dann nicht genauso sein wie sie? Ich kann Ihnen versichern, wenn ich mich schneide, strömt Blut und keine Luft. Ich habe nur ein einziges Mal – gestern, um genau zu sein – erlebt, dass etwas Wetterartiges meinen Körper verlassen hat.«
    Dot lächelte traurig und ihr Gesicht schien unter ihren zahllosen Falten fast zu verschwinden. »Vielleicht erleben einige von uns es nicht so oft, wie wir könnten. Vielleicht bedeutet es, dass wir die Verbindung verloren haben. Oder vielleicht sollten diejenigen von uns, die es erleben, sich besser zusammenreißen.«
    »Und was ist mit mir? Glauben Sie, dass ich genug wie sie bin? Um zu tun, was ich nun muss?«
    »Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich hängt das davon ab, ob Finn noch da ist und gerettet werden kann. Ich schätze, wenn Sie daran glauben, dann ist es möglich.« Sie tätschelte ihm den Arm. »Ich denke, das ist alles, was ich Ihnen sagen kann. Ich wünsche Ihnen alles Gute, Mr Fossiter, wohin auch immer Sie gehen.« Und damit versetzte sie ihm einen sanften Schubs ins Kreuz.
    Daniel rannte los wie ein Sprinter beim Startschuss. Ein Stück den Hang hinunter erfasste ihn eine Bö und ließ ihn noch schneller werden, und als er eine kleine Anhöhe erreichte und einen Blick zum nun weit entfernten Kloster zurück warf, wehte ihm der Wind sein schwarzes Haar ins Gesicht, sodass er nichts sehen und somit auch nicht in Versuchung geraten konnte, umzukehren.
    Er stürmte bergab in Richtung Thunderstown, doch erst als er den Stadtrand erreichte, bekam er die wahren Ausmaße des Unwetters zu spüren. Die Stadt lag hinter einem Regenvorhang verborgen und er musste sich die Arme vors Gesicht halten, als er hindurchlief. Wieder und wieder zerrissen Blitze den Himmel. Sturzbäche klatschten auf die Straßen nieder und Tropfen stoben vom Pflaster auf wie Funken von einem Amboss. Das Wasser brannte ihm in den Augen und durchtränkte seine Kleidung, und es war von Hagelkörnern durchsetzt, die hart genug waren, um die Farbe von den Haustüren zu schmirgeln. Daniel schirmte seine Augen ab, orientierte sich kurz und stürmte dann weiter in Richtung des Sankt-Erasmus-Platzes.
    In der Welcan Row
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