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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt
Autoren: Al Shaw
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Art, verlassen.
    * * *
    Unter Geruckel hob das Flugzeug ab. Zuerst sah Elsa durch das Fenster nichts als grauen Nebel. Sie presste die Fingerspitzen aneinander, um ruhig zu bleiben. Dann zeigte sich der erste verheißungsvolle Riss im Grau. Ein verschwommener blauer Streifen, der so rasch wieder verschwand, wie er aufgetaucht war, wie ein Fisch, der durchs Wasser schnellt.
    Dann löste sich das Flugzeug aus den Wolken.
    Wenn die Welt, die sie gerade unter sich zurückgelassen hatte, nur ein bisschen mehr mit dem Bild gemein gehabt hätte, das sich ihr nun bot, wäre Elsa vielleicht glücklicher in ihr gewesen. Keine Welt aus festgepressten Erdschichten unter betonierten Straßen und endlosen Häuserreihen, sondern eine aus Wolken, die sich zu Gebirgen auftürmten. So weit das Auge reichte, nichts als weiße Gipfel aus Wolken, in helles Sonnenlicht getaucht. Berg um Berg erhob sich über dunstverhangenen Schluchten. In der Ferne leuchtete für einen Moment eine flammende Spitze auf wie eine durchbrennende Glühbirne: ein flüchtiger Lichtblitz etwa zweihundert Meilen südlich. Elsa wünschte, sie könnte in dieser reinweißen Landschaft leben, ihre Tage auf dem Rücken liegend auf einer sonnenbeschienenen Wolkenwiese verbringen. Da das nicht möglich war, hatte sie nun alles andere aufgegeben und sich für die nächstbeste Lösung entschieden. Einen abgeschiedenen Ort, an dem sie sich ganz in Ruhe wieder sammeln konnte.
    »Ma’am?«
    Ärgerlich kehrte sie der Welt vor ihrem Fenster den Rücken und wandte sich dem Flugzeuggang und der Stewardess zu, die sie aus ihren Gedanken gerissen hatte. Nach der majestätischen Pracht der Wolkenlandschaft erfüllte die Banalität des Flugzeugs sie mit Wut. Die mit grauem Kunststoff verkleidete Kabine und das adrette kleine Halstuch der Stewardess. Die Leute, die in ihren Sitzen lümmelten wie zu Hause in ihren Wohnzimmern, im kostenlosen Magazin der Fluggesellschaft blätterten oder stumpf auf den Fernsehbildschirm starrten. Ein kleines Mädchen weinte und Elsa dachte: Ja, geht mir genauso.
    Die Stewardess erläuterte ihr die Menüauswahl, doch Elsa entgegnete, sie habe keinen Hunger. Die Frau lächelte steif und schob dann ihren Wagen weiter durch den Mittelgang.
    Das Flugzeug entfernte sich vom Land ihrer Geburt, von den glasgrauen Häuserblocks und dem gitterförmigen Straßennetz, von den betonierten Landebahnen, den Fähranlegern und den schaukelnden Booten auf dem zellophangleichen Meer. Doch sie verspürte keine Traurigkeit angesichts dieses Abschieds, obwohl sie noch kurz vor dem Einstieg ein paar Tränen hatte hinunterschlucken müssen. Gegen Elsas ausdrücklichen Wunsch war ihre Mutter am Flughafen aufgetaucht, um ihr, in ein Taschentuch schluchzend, Lebewohl zu sagen. Und sie hatte eine weitere unwillkommene Überraschung mitgebracht: zwei in glitzerndes rotes Papier gewickelte Geschenke. Elsa hatte versucht, sie abzulehnen – sie wollte ihr gesamtes früheres Leben hinter sich lassen –, sie dann aber schließlich doch hastig in ihre Tasche gestopft.
    Schon seit Jahren hatte Elsa kein enges Verhältnis mehr zu ihrer Mutter. Ihre Telefonate folgten immer demselben von ihnen beiden äußerst pflichtbewusst eingehaltenen Schema. Ihre unregelmäßigen Treffen fanden seit jeher in einem alten Diner statt, in dem ihre Mutter Elsa jedes Mal eine dicke heiße Schokolade und ein Stück Pekannusskuchen bestellte, was sie als Kind stets begierig verschlungen hatte. Mittlerweile hatte Elsa das Gefühl, allein vom Anblick dieses fetttriefenden Kuchenstücks zuzunehmen, doch sie würgte es jedes Mal klaglos hinunter. Wenn sie einfach mitspielte, so hoffte sie, würde diese sich ewig wiederholende Szene vielleicht eines Tages aus dem Stück gestrichen und durch eine neue ersetzt werden. Doch seit ihre Mum ihren Dad hinausgeworfen hatte, waren sie beide in ihren verbrauchten Rollen gefangen; und Elsa beschlich immer mehr die Befürchtung, dass ihre Mutter damals zusammen mit ihrem Ehemann auch alle noch ausstehenden Akte auf die Straße geworfen hatte.
    In diesem Frühjahr hatten die ersten Sonnenstrahlen zur Zeit der Kirschblüte Neuigkeiten mit sich gebracht, die Elsas Leben zu Scherben zerschmettert hatten. Ihr Handy hatte geklingelt, irgendwo in den Tiefen von Peters Brooklyner Wohnung versteckt. Peter und sie hatten danach gesucht, unter Kissen nachgesehen und Taschen durchwühlt, während das körperlose Klingeln sie zu verhöhnen schien. Irgendwann hatte Peter es unter einem
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