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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt
Autoren: Al Shaw
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hinter sich.
    Die monotone Abfolge unbekannter Straßen ließ ihre Lider schwer werden. Sie öffnete die Augen. Die Uhr im Armaturenbrett informierte sie, dass eine halbe Stunde vergangen war. Sie befanden sich auf einem Highway und irgendwo weit vor ihnen schlängelte sich eine Reihe roter Rücklichter durch die Dunkelheit, während auf der Gegenfahrbahn reflektierende Straßenmarkierungen und weiße Frontscheinwerfer an ihnen vorüberglitten. Kenneth summte kaum hörbar vor sich hin. Elsa glaubte, die Melodie zu erkennen.
    * * *
    Nach einem, wie sie glaubte, kurzen Moment öffnete sie die Augen, doch die Uhr hatte eine weitere Stunde der Nacht ausradiert und die Scheibenwischer kämpften gegen den Regen an, der aus der Dunkelheit auf sie niederprasselte. Der Verkehr hatte abgenommen. Ein einzelnes Auto beschleunigte neben ihnen auf der Überholspur und verschwand dann in der Ferne. Sie lehnte den Kopf zurück in den Sitzbezug.
    Als sie die Augen das nächste Mal aufschlug, regnete es nicht mehr. Frische Nachtluft strömte durch das geöffnete Fenster herein. Vor ihnen tauchte das gigantische Konstrukt einer Hängebrücke auf, deren riesige Träger sich in die Dunkelheit reckten. Autos rasten darüber hinweg, und links und rechts sah Elsa Meilen um Meilen eines breiten, gewundenen Flusses, auf dessen krauser Oberfläche hell erleuchtete Schiffe schaukelten. Wind erfasste den Wagen und ließ die Brückenpfeiler schwingen wie Stimmgabeln. Der Stahl rings um sie summte. Ihr Kopf sackte vornüber.
    Sie träumte von ihrer Beziehung mit Peter, bevor er das getan hatte, was ihr den Rest gegeben und ihr vor Augen geführt hatte, dass sie New York verlassen musste. In ihrem Traum saß sie im Schlafzimmer seiner Wohnung in Brooklyn und hörte zu, wie er einer seiner E-Gitarren undefinierbaren Lärm entlockte. Sie hatte das Gefühl, dass sämtliche Mietshäuser, all die Geschäfte und Bürogebäude der Nachbarschaft und selbst die Wolkenkratzer oben in Manhattan von allen Seiten auf sie zurückten. Jedes einzelne Fenster in ganz New York City schien sie zu belauschen.
    Elsa öffnete die Augen. Die anderen Autos waren verschwunden und Kenneths Wagen war ganz allein auf der Straße. Der einzig sichtbare Teil der Welt war in die gelben Lichtkegel der Scheinwerfer gepfercht. Die Straße schien keine Begrenzungen zu haben, keine Mauer, kein Gebüsch hinter dem Seitenstreifen, und das Rumpeln und Schaukeln, mit dem das Auto über Schlaglöcher und verstreute Schieferstückchen fuhr, hielt sie wach. Eine Straße in die Unendlichkeit, als bestünde das Universum aus nichts als einem Auto und aufgesprungenem Asphalt. Plötzlich bogen sie um eine Kurve, und als Elsa einen flüchtigen Blick auf einen steilen Geröllhang erhaschte, wurde ihr bewusst, dass sie sich möglicherweise in ziemlich großer Höhe befanden.
    Die Straße wurde wieder gerade und die Fahrbahn ebener. Ihr Kopf sackte erneut nach vorn.
    Sie öffnete die Augen. Die Scheinwerfer erhellten zu beiden Seiten Geröll und riesige Felsbrocken. Kein Gras, nur Schieferstücke, die unter dem Gewicht des Wagens zerbarsten und dabei ein Geräusch wie ein Händeklatschen machten.
    Augen zu. Auf. Die Zeiger der Uhr schienen sich nicht tickend, sondern in Sprüngen vorwärtszubewegen. Auf beiden Seiten der Straße standen Bäume, die jedoch so krumm wuchsen – beinahe parallel zum steinigen Grund –, dass sie kaum so hoch wie das Auto waren. Der Wind übertönte sogar das Dröhnen des Motors.
    »Wieder wach?«, fragte Kenneth freundlich. Doch Elsa war schon wieder eingeschlafen.
    Wieder wach. Der Mond hing einsam am sternlosen Himmel. Aufgedunsene Nachtwolken scharten sich um ihn. Und darunter erhoben sich die Silhouetten anderer Riesen.
    »Berge«, flüsterte sie.
    »Ja«, entgegnete Kenneth ebenso ehrfürchtig. »Berge.«
    Selbst aus dieser Entfernung und obwohl sie so zweidimensional wirkten, als wären sie aus schwarzem Papier ausgeschnitten, konnte Elsa ihre gewaltige Größe erahnen. Sie hoben den Horizont weit in den Nachthimmel empor. Jeder einzelne hatte seine ganz eigene Form: Der eine war perfekt gewölbt wie eine umgedrehte Schüssel, ein anderer hatte einen eingedrückten Gipfel und den nächsten zierte eine zerklüftete Reihe von Spitzen wie die Zacken einer Krone.
    Als sie in eine weitere verlassene Straße einbogen, verlor Elsa sie aus den Augen. Der einzige Wegweiser, den sie in ihren wenigen wachen Momenten bemerkt hatte, war ein rostiger Rahmen gewesen, aus dem
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