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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt
Autoren: Al Shaw
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Der Regen begann mit einem einzelnen sanften Tippen an ihr Schlafzimmerfenster, dann noch eins und noch eins, und schwoll schließlich zu einem stetigen Prasseln gegen die Scheibe an. Sie zog die Vorhänge auf und erblickte einen Himmel wie aus angelaufenem Silber, ohne eine Spur von Sonne. Sie hatte so sehr auf einen solchen Morgen gehofft, dass sie einen leisen Seufzer der Erleichterung ausstieß.
    Als das Taxi kam, um sie zum Flughafen zu bringen, klatschte das Wasser auf die Windschutzscheibe und breitete sich dort zu dicken Kreisen aus. Die tief hängende Wolkendecke ließ die Hochhäuser Manhattans mit der Atmosphäre verschmelzen und der Taxifahrer schimpfte über die schlechte Sicht. Sie erklärte ihm, wie sehr sie solche trüben Morgen liebte, wenn der Sprühregen die Welt ihrer Substanz beraubte, und er entgegnete rundheraus, sie müsse ja wohl verrückt sein. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah aus dem Fenster, hoch zu den nebelumhüllten Verheißungen weit über ihr.
    Sie hielt sich nicht für verrückt, doch sehr weit davon entfernt war sie in den letzten Monaten nicht gewesen. Zu Beginn dieses Sommers hätte sie sich noch als gesellige, erfolgreiche und mit beiden Beinen fest im Leben stehende Neunundzwanzigjährige beschrieben. Heute, da der August sich erschöpft seinem Ende zuneigte, war sie nur noch neunundzwanzig.
    Am Flughafen marschierte sie gedankenversunken durch den Check-in-Bereich. In der Abflughalle lief sie ungeduldig auf und ab. Beim Einstieg war sie die Erste in der Schlange. Selbst als sie in ihrem Sitz festgeschnallt war; selbst als sie den gelangweilt heruntergeratterten Sicherheitsanweisungen des Bordpersonals lauschte; selbst als die biedere alte Dame neben ihr knisternd das Papier eines bunten Lutschbonbons zusammenknüllte; selbst inmitten dieser für einen Traum viel zu klaren Details fürchtete sie die ganze Zeit, dass ihr all die Versprechungen, die dieser Augenblick für sie bereitzuhalten schien, von einer Sekunde zur anderen entrissen werden könnten.
    Denn das Leben, davon war Elsa Beletti überzeugt, machte sich einen Spaß daraus, ihr Dinge zu entreißen.
    Elsa kam äußerlich nach der Familie ihrer Mutter. Die Belettis hatten ihr ihr wirres schwarzes Haar und ihre rostbraunen Augen vererbt, genauso wie die scharf geschwungenen Brauen, die ihrem Gesicht eine Strenge verliehen, die in den meisten Fällen nicht beabsichtigt war. Den Großteil des Jahres über war sie für ihren eigenen Geschmack schlank genug, obwohl ihre Mutter und alle ihre Tanten ausgesprochen rund waren. Bei Familientreffen schienen sie einander zu umkreisen wie die Planeten eines Sonnensystems. Elsa rechnete jederzeit damit, eines Morgens aufzuwachen und festzustellen, dass die Gene letztendlich gesiegt hatten, ihren Körper in eine Kugel verwandelt und ihre Stimme, deren feines Sirren sie so mochte, weil es sie an das einer scharfen Klinge erinnerte, in die einer echten Beletti-Matriarchin, die jeden Satz wie ein dezibelgesättigtes Drama erscheinen ließ.
    Doch ihr Nachname (den sie im Alter von sechzehn Jahren angenommen hatte, nachdem ihre Mutter ihren Vater vor die Tür gesetzt hatte) und ihr Äußeres waren alles, was sie mit den Belettis verband. Sie war schon immer davon überzeugt gewesen, dass sie ihrem Dad ähnlicher war, dessen Familiengeschichte sich aus nichts als unbestätigten Legenden und den Erzählungen seiner Großeltern zusammensetzte. Einer seiner Ahnen, so hatten sie ihm erzählt, war Steuermann auf einem Pilgerschiff gewesen. Er hatte den Wind in die Segel des Schiffes gelockt, auf dass es die Siedler über die unsicheren Wasser zur Gründung einer neuen Nation trage. Ein anderer sollte ein Navajo-Medizinmann gewesen sein, der die gewaltsame Vertreibung seines Volkes aus seinem Stammesgebiet überlebt hatte und in der Fremde dessen Glauben an den heiligen Wind am Leben erhielt, der den Menschen Atem einhauchte und für die spiralförmigen Abdrücke auf ihren Fingerspitzen und Zehen verantwortlich war.
    Elsas Mutter sagte immer, ihr Dad habe diese beiden Geschichten bloß erfunden. Sie sagte, er wolle damit nur seine jämmerliche Existenz aufwerten. Sie sagte, seine Ahnen seien allesamt Hinterwäldler und Alkoholiker gewesen. Das alles sagte sie ein letztes Mal an jenem verregneten Nachmittag, als sie ihn aus dem Haus warf und er wie ein obdachloser Hund im niederprasselnden Wasser stand.
    Und dann, in diesem Frühling, hatte er sie ein zweites Mal, auf eine endgültigere
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