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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt
Autoren: Al Shaw
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ist nicht überall so ausgestorben.«
    Das Auto rumpelte über den aufgesprungenen Asphalt. Die Wohnhäuser am Ende der Straße waren nicht ganz so heruntergekommen, dennoch brannte kein Licht hinter den Fenstern. Es war spät in der Nacht, doch diese Häuser würden auch im Morgengrauen nicht zum Leben erwachen. Ihre Türen sahen aus, als könnte man sie nicht einmal mehr öffnen, fest verschlossen wie Grabkammern.
    In der nächsten Straße waren die Gebäude größer und doch wirkten sie seltsam verschüchtert, als drückte das Gewicht des Himmels sie nieder. Ihre Mauern waren säuberlich verputzt und gestrichen und vor einer Haustür trotzte der beruhigende Schein einer Lampe den Schatten. Daneben hing ein Korb mit wilden Bergblumen, die genauso gelb und orangefarben leuchteten wie die Glühbirne. Die Fensterläden im Erdgeschoss waren weit geöffnet und Elsa konnte in ein von einem Kronleuchter erhelltes Wohnzimmer blicken. Eine dürre Mutter im Nachthemd wiegte ein Baby in ihren Armen und streichelte ihm über die Stirn. Es war ein willkommenes Bild nach all der Trostlosigkeit. Als sie das Haus passierten, hob die Frau erstaunt den Kopf, als wäre ihr Auto das erste motorisierte Fahrzeug im Zeitalter der Maultierkarren.
    Sie kamen an einer Kneipe vorbei, dem Burning Wick, deren Front mit verrußtem Schiefer vertäfelt war und der Innenraum mit karamellbraunem Holz. Eine nackte Glühbirne leuchtete hinter dem Fenster, doch der Laden war längst geschlossen und die Stühle waren auf den Tischen gestapelt. Im Hauseingang jedoch hockte ein alter Mann in einem Regenmantel, in der Hand eine in braunes Papier gewickelte Flasche. Er trug einen ledernen Regenhut, dessen breite Krempe an den Seiten herunterhing wie riesige Schlappohren. Trübselig erwiderte er Elsas Blick, als sie an ihm vorbeifuhren, dann machte die Straße eine Biegung und er war verschwunden.
    Noch mehr Häuser folgten. Einige der Schieferfassaden waren in gedeckten Farben gestrichen, die der tristen Gegend zögerlich Leben einzuhauchen schienen. Schließlich beschrieb die Straße einen weiteren Bogen und mündete auf einen riesigen Platz, der von altertümlichen Straßenlaternen erhellt wurde, bis auf ein paar dunkle Winkel, dort, wo die Glaskuppeln zerbrochen waren.
    Im nächsten Moment keuchte Elsa auf. Sie hatte das imposanteste Bauwerk auf dem Platz zuerst gar nicht gesehen. Es ragte so hoch vor ihnen auf, dass ihre müden Augen es nicht registriert oder für ein Relikt ihrer Träume gehalten hatten.
    »Die Sankt-Erasmus-Kirche«, flüsterte Kenneth und fuhr ein wenig langsamer. »Der heilige Erasmus ist der Schutzpatron der Seefahrer, ausgerechnet.« Er lachte leise. Er schien seine Sätze gern mit einem kleinen Glucksen anstelle eines Punkts zu beenden.
    Elsa kurbelte ihr Fenster herunter, streckte ihren Kopf nach draußen und blickte hoch, dann noch höher.
    Die Kirche war gigantisch, vollkommen überdimensioniert für die Bedürfnisse einer so winzigen Stadt; ein wuchtiger Steinbau, der es mit jeder Kathedrale hätte aufnehmen können. Und sie war völlig unbeleuchtet. Die Nachtluft ringsum wirkte aufgewühlt, als hätte die gewaltige Präsenz des Gebäudes sie von ihrem rechtmäßigen Platz verdrängt. Elsa dachte an die Kathedralen von New York, deren kunstvoll verzierte Fassaden bei Nacht majestätisch angestrahlt wurden. Die Sankt-Erasmus-Kirche dagegen lag in vollkommener Finsternis. Und obwohl Elsa kaum etwas erkennen konnte, glaubte sie zu ahnen, dass der Bau auch beleuchtet ein völlig anderes Bild geboten hätte als alle Kirchen, die sie kannte. Gerade die Dunkelheit, schwärzer als die Nacht, verlieh ihm etwas Ehrfurchterweckendes, genau wie seine unansehnliche Silhouette – der traurig stumpfe Kirchturm, der kaum über den höchsten Punkt des Daches hinausragte, die ausladenden Seiten, auf Breite ausgelegt statt auf Höhe. Er erinnerte eher an einen gewaltigen heidnischen Megalithen als an eine christliche Kirche.
    Sie verließen den Sankt-Erasmus-Platz und fuhren wieder durch Straßen voller Reihenhaussiedlungen und anderer zusammengeduckter Gebäude. Im Vorbeifahren konnte Elsa ein paar Schilder entziffern: Auger Lane, Drillbit Alley, Foreman’s Avenue.
    »Das hier war früher mal ein Bergbaugebiet«, erklärte Kenneth. »Die ganze Stadt ist auf alten Stollen errichtet.«
    Nach einer Weile bogen sie in die Prospect Street ein, und diesen Straßennamen erkannte Elsa. Hier, vor dem Haus mit der Nummer 38, hielt Kenneth den Wagen
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