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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt
Autoren: Al Shaw
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einer kleinen Kochnische in der Ecke führte. Auf einem Tischchen hatte Kenneth eine Vase voll frischer Bergblumen platziert, mit winzigen buttergelben Blüten. Vor dem Fenster mit Aussicht auf einen von einer einzelnen Laterne erhellten Hinterhof stand ein Korbsessel. Jenseits der Mauern am anderen Ende des Hofs zeichneten sich die Umrisse anderer Häuser ab und in der Ferne ragte, dunkler als der Rest der Nacht, ein Dreieck auf. Elsa hoffte, dass es sich im Morgenlicht als die Turmspitze der Sankt-Erasmus-Kirche erweisen würde.
    Vor dem Fenster erklang ein leises Klimpern. Sie stieß die Scheibe auf.
    An einem rostigen Nagel in der Außenmauer hing ein Band mit Anhängern. Sie nahm es ab und betrachtete es von Nahem. Es waren verschiedene kleine Gegenstände, zusammengehalten von einem schmutzigen Stück Bindfaden: ein paar winzige Zweige mit silbern schimmernder Borke; zwei Kupfermünzen, deren Prägung unter einer grünen Patina verschwunden war; eine geschwungene Feder und noch etwas … Ruckartig riss Elsa den Kopf zurück und ließ das Band zu Boden fallen. Ein Eckzahn, an dessen Wurzeln noch getrocknetes Blut klebte. Sie bückte sich und hob es wieder auf. Der Zahn schlug klackernd gegen die Münzen.
    Sie warf das Band aus dem Fenster und sah zu, wie es unten im Hof landete und die mürben Zweige auf den Pflastersteinen zerbrachen.
    Gähnend ging sie zurück in ihr neues Schlafzimmer. Sie beschloss, kurz die neue Matratze zu testen.
    Sekunden später war sie tief eingeschlafen.
    * * *
    In der Tiefe der Nacht weckte sie ein merkwürdiges Geräusch vor ihrem Fenster. Ein Schnüffeln, wie von einem wilden Tier. Sie drehte sich auf die andere Seite. Wahrscheinlich bloß die Geräusche eines unbekannten Hauses. Wahrscheinlich bloß der Wind.
    Elsa schob den Gedanken von sich und der Schlaf zog sie zurück in ihre Träume.

Elsa erwachte vom Gezwitscher eines Vogels auf ihrem Fenstersims und von der Sonne, die das Schlafzimmer erfüllte. Sie blinzelte den Schlaf weg und gähnte.
    Dann fiel ihr ein, dass sie nicht mehr in New York war. Sie stemmte sich hoch auf die Ellbogen. Die Uhr an der Wand zeigte halb zehn. Sie ließ sich zurück in die Kissen sinken und lächelte. Endlich. Endlich war sie eine ganze Welt weit weg.
    Sie stand auf und ging ans Fenster, um einen ausgiebigen Blick auf ihre Ecke von Thunderstown zu werfen. Dünner Morgennebel ließ die Straße wie ein ausgeblichenes Foto wirken. Sonnenlicht überzog jede bröckelnde Fassade, jede staubige Bürgersteigplatte mit einem gelben Schimmer. Elsa lächelte, wusch sich das Gesicht, zog sich an und entdeckte die Lebensmittel, die Kenneth so fürsorglich in ihrer ansonsten leeren Küche deponiert hatte. Nach einem Frühstück, bestehend aus Müsli und einem Apfel, der ihr süß wie Karamell auf der Zunge zerging, machte sie sich auf den Weg, um ihr neues Zuhause zu erkunden. Der Nebel hob sich langsam, doch die Sonne verbarg sich noch immer hinter einem strahlend weißen Schleier. Im Osten trübten ein paar kleine Wolken das Blau und selbst die Wärme des Tages schien diese nicht fortwischen zu können.
    Die Gebirgskette, die Thunderstown umschloss, war seit Jahrhunderten dem stetigen Nagen des Windes ausgesetzt und an ihren Flanken schimmerte der nackte Schiefer durch. Wo spärlich Gras und Gestrüpp wuchsen, hatte der Spätsommer sie goldbraun geröstet. Der ausgetrocknete Boden war von Gerölllawinen mitgerissen worden und an seiner Stelle waren nur kahle Schneisen aus schwarzer und ockerfarbener Erde zurückgeblieben.
    Vier Berge thronten besonders gebieterisch über dem Städtchen im Tal, einer in jeder Himmelsrichtung. Der höchste von ihnen ragte als zerknautschter Gipfel im Osten auf. In ihren E-Mails an Kenneth hatte Elsa aufgeregt jede Frage über Thunderstown gestellt, die ihr nur eingefallen war, und aus einer seiner Antworten hatte sie erfahren, dass der Name dieses gewaltigen Berges Drum Head lautete. Seine Dominanz hatte er vor allem jenen Momenten zu verdanken, in denen die Sonne seine Flanken beschien: Das Licht ließ die Felsoberfläche wie ein Relief erscheinen, das an den Mann im Mond erinnerte. Und so zeigte der Berg an sonnigen Tagen ein gütiges, leicht verwundertes Antlitz aus zahllosen Tonnen von Stein.
    Im Westen, gegenüber dem Drum Head, erhob sich der Old Colp, steil wie ein Katzenbuckel. Seine Hänge waren mit einem gefleckten Pelz aus Heidekraut überzogen, das die Einheimischen als Strubbelflechte bezeichneten. Richtung Norden
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