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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt
Autoren: Al Shaw
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gingen die kleineren Hügel unterhalb des Old Colp in die gezackten Ausläufer des Devil’s Diadem über, ein Berg, der nicht einen einzelnen Gipfel besaß, sondern eine ganze Reihe spitzer Felsnadeln, die wie die Zähne eines Tellereisens in den Himmel ragten. Kenneth hatte erklärt, dass das Devil’s Diadem zwei Jahrhunderte zuvor noch Holy Mountain geheißen hatte, doch er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie es zu dieser Namensänderung gekommen war. Um Thunderstown rankten sich zu viele Legenden, hatte er geschrieben, als dass man sich jede einzelne merken könne.
    Der Berg im Süden war der unauffälligste. Wie der Rauch eines Freudenfeuers verhüllte ein Hauch von Nebel seinen Gipfel. Sein Name war Merrow Wold und er war dermaßen mit Felsbrocken und Bruchgestein übersät, dass er weniger wie ein Berg wirkte als vielmehr wie das größte je von Menschenhand geschaffene Steinmännchen. Ziegen hatten ihn zu dem gemacht, was er heute war, indem sie dem Boden und der Pflanzenwelt dort oben so lange zugesetzt hatten, bis die Erde eines Tages keine Blumen und Schösslinge mehr hervorbrachte, sondern nur noch Stein und Schiefer. Der Merrow Wold war der kargste Berg in der Umgebung und am schwierigsten zu besteigen; seine Hänge waren rutschig und knirschten unter den Füßen wie ein Strand voller Kiesel.
    Diese vier waren viel zu gigantisch, als dass sie keinen Einfluss auf das Städtchen gehabt hätten, das zwischen ihnen eingeschlossen lag. Angesichts ihrer Größe fühlte Elsa sich winzig, wie sie so ziellos durch das Netz von Straßen mit seinen unzähligen Seitengässchen und düsteren Engstellen schlenderte. Sie fühlte sich gefangen, wie in einem Labyrinth, und zur gleichen Zeit ungeschützt, wie auf den weiten Ebenen ihrer Kindheit. Die vielen schmalen Sträßchen schlängelten sich zwischen hohen Häuserwänden hindurch, nur um nach einer scharfen Biegung noch enger zu werden und schließlich in einer Sackgasse zu enden. Und jedes Mal, wenn Elsa zu befürchten begann, bis in alle Ewigkeit durch dieses Labyrinth wandern zu müssen, spuckte es sie mittels einer weiteren engen Kurve oder einer kleinen Treppe auf einen sonnendurchfluteten Hof voller Wildblumen, die zwischen den Pflastersteinen wuchsen. Doch wo immer sie auch landete, einer der vier Berge behielt sie stets im Auge.
    Thunderstown hatte mehr Einwohner, als man auf den ersten Blick vermutet hätte, doch sie huschten meistens schnell außer Sicht, wie Kellerasseln unter einem angehobenen Brett. Sie wirkten ganz in sich selbst versunken und schienen immer eilig auf dem Weg irgendwohin zu sein. Ihre Kleidung gab Elsa Rätsel auf: Selbst an einem spätsommerlich warmen Tag wie diesem trugen die meisten Frauen dicke Schultertücher und die Männer Regenmäntel und breitkrempige Lederhüte wie die Gewänder einer Ordensgemeinschaft.
    Der Wind folgte Elsa durch die ganze Stadt, strich über ihr Gesicht und ihre bloßen Arme, nur um ganz plötzlich abzuebben und unbewegte Luft zurückzulassen. Dann wieder tanzte er auf Kreuzungen und wirbelte aus dem Staub der engen Höfe kleine Windhosen auf, sodass es schien, als gäbe es nicht einen einzigen Wind, sondern unzählbar viele, von denen jeder sein Revier zu verteidigen suchte. An einem kleinen Metzgerstand, wo man Rauchfleisch kaufen konnte, übernahm der Wind die Rolle des Gehilfen, indem er die Fliegen von der dunkelroten Ware verscheuchte. An einer anderen Stelle ging der Wind einer Frau zur Hand, die gerade ihre Wäsche aufhängte, und faltete jede Bluse, jede Hose auseinander, sobald sie sie aus dem Korb nahm.
    Kenneth hatte Elsa in einer seiner E-Mails so gut es ging die Stadtgeschichte zusammengefasst. Er hatte von einer verheerenden Flut berichtet, die einst über die Häuser hereingebrochen war. Heute, in den trockenen Straßen von Thunderstown, konnte man sich kaum vorstellen, dass hier einmal riesige Wassermassen gewütet haben sollten, aber Kenneth hatte geschrieben, tief unter den Straßen und Gassen, in den finsteren Tunneln, wo sich früher die Minenarbeiter abgerackert hatten, seien wahrscheinlich noch immer große Mengen des alten Flutwassers gespeichert. Elsa stellte sich vor, dass ein unterirdischer Sog sie auf ihrem Weg durch die Straßen leitete, und machte dabei eine interessante Entdeckung: Jede Straße der Stadt führte zur Sankt-Erasmus-Kirche. Sie musste all ihre Entschlossenheit aufbieten, um nicht ständig, ohne es zu merken, im Kreis zu laufen und wieder vor der Kirche
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