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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt
Autoren: Al Shaw
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sprudelten die alten Minenschächte über. Verrottete Seile, schleimiges Moos und Schrottteile gurgelten an die Oberfläche und wurden von einem schmutzigen Strom davongetragen, der nun die Straßen ausfüllte. In der Corris Street watete Daniel durch knietiefes Wasser und wandte sich dann nach Süden, Richtung Bradawl Alley, in der die buckligen Pflastersteine wie kleine Inseln aus den Fluten lugten. In jeder Straße stand das Wasser höher als in der vorherigen, doch er stapfte weiter, mit durchnässten Stiefeln, die bei jedem Schritt schmatzten.
    In der Foremans Avenue ächzten und knarrten die Bäume im Sturm. Mit einem Laut, der an das abrupte Kratzen einer Plattenspielernadel über das Vinyl erinnerte, barst einer von ihnen der Länge nach entzwei. Die Straße darunter klaffte auf und Wurzeln schnellten empor, als sich die eine Hälfte des Baums mit einem Kreischen zur Seite neigte und inmitten eines Wusts wirbelnder Blätter zu Boden krachte.
    Als Daniel am Haus der Moses vorbeilief, sah er kurz auf und stellte zu seiner Zufriedenheit fest, dass dort das Wasser schäumend unter der Tür hindurchdrang und ein Fenster vom Blitz aus seinem Rahmen geschlagen worden war. Er eilte weiter. Er musste zur Sankt-Erasmus-Kirche.
    Regen trommelte auf die Motorhauben der Autos, brachte die Bürgersteige zum Brodeln und traktierte Daniel mit harten Eisstückchen, sodass er sich immer wieder Halt suchend an eine Straßenlaterne klammern musste, bevor er schließlich das Ende der Widdershin Road erreichte und auf den Kirchplatz gelangte. Er konnte kaum einen Steinwurf weit sehen, schon gar nicht bis hinauf zur Turmspitze. Der Regen schien alles Sichtbare auszuradieren. Der Platz stand völlig unter Wasser und an mehreren Stellen hatten sich weiß sprudelnde Stromschnellen gebildet.
    Die letzten paar Meter musste er waten, bis er schließlich die höher gelegenen Eingangsstufen des Portals erreichte. Dort blickte er einen Moment zurück über den Platz. Wasser, voller Trümmer und bedeckt mit schmutzigem Schaum, strömte aus jeder Straße auf den Kirchhof und wirbelte in Form eines riesigen Strudels um das Gotteshaus herum. Allein vom Zusehen wurde Daniel schwindelig, als würde sich nicht bloß das Wasser, sondern die gesamte Stadt um ihn drehen.
    Er kämpfte sich in die Kirche und schlug die Tür hinter sich zu, dann blieb er einen Moment stehen, um Atem zu schöpfen. Wie still die Luft hier drinnen war. Vom Dach hallte das Trommeln so vieler Regentropfen wider, dass ihr Echo sich zu einem anhaltenden, pulsierenden Dröhnen verband. Es war so dunkel, dass er sich ganz auf sein Gefühl verlassen musste, als er sich durch den Mittelgang tastete, und er rief sich das Kirchenschiff vor Augen, wie er es seit all den Jahren kannte. Seine Erinnerung fügte die Details hinzu: sein Vater auf der Kanzel, den Kopf demütig zum Gebet geneigt; sein Großvater, gelangweilt oder angetrunken in der letzten Reihe lümmelnd; Betty, die ihm einen Blick zuwarf, in dem er immer noch Liebe zu entdecken meinte, als er ein einziges Mal versucht hatte, aus dem Buch seines Namenspatrons vorzulesen und seine Stimme am Lesepult versagt hatte. »Mir, Daniel, ward mein Geist in mir tief ergriffen, und die Gesichte meines Hauptes ängstigten mich.«
    Langsam ging er auf den Altar zu. Auf Höhe der ersten Reihe, in der er seit Jahren an jedem einzelnen Sonntag gesessen hatte, blieb er stehen. Er strich über das kalte Holz, nahm seinen durchnässten Lederhut ab und legte ihn auf die Bank. Dann ging er zur Seitentür und stieg die Wendeltreppe zum Glockenturm hinauf. Der enge Schacht war vom Brausen des fallenden Wassers erfüllt.
    Als er die Spitze des Turms erreichte, spürte er sofort die Elektrizität, die in den Steinen unter seinen Füßen rauschte und unter dem prasselnden Regen summte. Das Mauerwerk schien vor Energie zu vibrieren. Und über ihm erstreckte sich indigoblau die Gewitterwolke.
    Hier oben fühlte er sich dem Donner auf beinahe innige Weise nahe. Er war überzeugt, dass er die Wolke, wenn er die Hand nach ihr ausstreckte – was er nun, auf den Zehenspitzen balancierend, auch tat –, berühren konnte. Doch seine Hand griff ins Leere und Daniel zog sie zurück. Er kam sich lächerlich vor, aber der Himmel hatte einfach zu klein für eine so gewaltige Wolke gewirkt. Es verwirrte ihn, dass sich etwas so Riesenhaftes nicht mit Händen greifen ließ.
    Hagel prasselte auf den Turm nieder wie fallende Würfel und traf ihn schmerzhaft in sein
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