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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt
Autoren: Al Shaw
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zusammen. Vielleicht war es der Alkohol, von dem er in letzter Zeit so wenig trank, oder vielleicht war es etwas, das Kenneth gesagt hatte. Was immer es war, er konnte spüren, wie sich in irgendeinem tiefer gelegenen Teil seines Gehirns Gedanken formten, auf die sein Bewusstsein keinen Zugriff hatte. Jedes Mal, wenn er sich darauf zu konzentrieren versuchte, entwanden sie sich ihm, doch er wusste, dass sie da waren, wie die geschäftigen Geräusche hinter einem Theatervorhang, kurz bevor er sich zur Vorstellung öffnete. Er wartete ungeduldig, dass das Stück endlich losging, und als das nicht geschah, schlurfte er zurück in die Kapelle.
    Drinnen ließ er die Tür geräuschvoll hinter sich zufallen und blieb im Mittelgang stehen, seinen Regenhut in der Faust zu einem Knäuel zusammengerollt. Während seiner Unterhaltung mit Kenneth waren viele der Gebetskerzen auf ihrem wackligen Metalltischchen heruntergebrannt. Er näherte sich der Nische und zählte fünfzehn erloschene Talgringe: fünfzehn geheime Wünsche, um derentwillen sie angezündet worden waren. Er warf ein paar Geldstücke in die Sammelkiste und ersetzte jede dieser Kerzen durch eine neue, versunken in den Anblick der winzigen Flammen, die sich jedes Mal teilten, wenn sie mit einem frischen Docht in Berührung kamen. Als alle Kerzen brannten, kehrte er der Nische den Rücken zu und trat vor den Altar, nicht um dort zu beten, sondern um einfach nur auf dem Labyrinth zu stehen, das sich wie ein Mosaik auf dem Boden ausbreitete.
    In seiner Erinnerung war es eine enorme, leuchtend rote Spirale, hier in der Gegenwart jedoch nichts weiter als ein bleiches Muster, das ihn an die Altersringe eines Baumstumpfs denken ließ. Er brauchte nur wenige seiner großen Schritte, um dem Pfad in die Mitte zu folgen. Dort blieb er eine Weile stehen, die Augen geschlossen, und hoffte auf eine Offenbarung. Er wünschte, er hätte den Verstand seines Vaters geerbt, der jeder Katastrophe mit eiskalter Vernunft entgegengetreten war.
    Erst als noch mehr der Kerzen zu verlöschen begannen, rührte er sich wieder. Möglicherweise hatte er Stunden dort gestanden, aber er war keinen Schritt weitergekommen. Alles, woran er denken konnte, war, dass er Finn verloren hatte und nicht wusste, was er nun tun sollte. Mit hängendem Kopf schlurfte er in Richtung der Kapellentür und blieb, die Hand auf der Klinke, noch einmal stehen, ein letztes Mal auf eine Erleuchtung hoffend. Dann trat er in den Kreuzgang hinaus, wo das ferne Grollen von Finns Gewitter in seltsamem Kontrast zu der ruhigen Nacht und den funkelnden Sternbildern stand. Ihr Licht spiegelte sich im Metall und Email der zahllosen Talismane, mit denen die Wände behängt waren.
    Er zog sein Taschentuch, das seinem Großvater gehört hatte und mit den Initialen D. F. bestickt war, aus der Tasche und schnauzte sich. Was er zu Kenneth gesagt hatte, war sein Ernst gewesen. Dies alles war allein seine Schuld oder zumindest die seiner Familie, für die er ebenfalls verantwortlich war. Wenn seine Ahnen andere Menschen gewesen wären, hätten sie dafür sorgen können, dass die Stadt ihren Frieden mit dem Wetter schloss. Was wäre passiert, wenn sie dem Beispiel seiner Mutter gefolgt wären? Sie hatte niemals Zähne aus den Mäulern toter Wildhunde gebrochen, um sie zusammen mit Münzen und zerfledderten Vogelfedern auf eine Kette zu fädeln, in der Hoffnung, sich so vor ihnen zu schützen. Nein, sie hatte sie gestreichelt und gekrault und die Tiere hatten in ihrer Gesellschaft wohlig gebrummt.
    Er griff in seine Tasche und zog das Foto von ihr hervor, um es noch einmal zu bewundern. Ihr Haar war so schwarz wie ein Traum, ihr Kleid von einem frostigen Silber. Plötzlich erinnerte er sich daran, wie sein Atem vor ihm in der Luft gefroren war, als er das Bild gefunden hatte. Er steckte es zurück in die Tasche, dann kniff er die Augen zusammen und trommelte mit den Fingerknöcheln gegen die Schläfen, als hoffte er, seinem Gehirn auf diese Weise eine Möglichkeit zu entlocken, wie er Finn retten könnte. Nichts geschah und so machte er sich auf den Weg durch die düsteren Korridore zurück zu der Zelle, in der Elsa schlief.
    * * *
    Als Elsa das nächste Mal erwachte, war sie beruhigt, dass Daniel da war. Zuerst sagte er nichts, nickte ihr noch nicht einmal zu. Und sie war froh darüber. Sie leisteten einander Gesellschaft, ohne viel zu reden. Sie teilten eine Schwermut, die keiner großen Worte oder Gesten bedurfte. Hin und wieder
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