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Wer stiehlt schon Unterschenkel: und andere unglaubliche Kriminalgeschichten (German Edition)

Titel: Wer stiehlt schon Unterschenkel: und andere unglaubliche Kriminalgeschichten (German Edition)
Autoren: Gert Prokop
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Timothy Truckle
    Sagen Sie ruhig: Alles gelogen. Wahrscheinlich würde ich es auch nicht glauben, wäre ich nicht selbst in der Alten Welt gewesen und hätte Timothy Truckle dort kennengelernt.
    Ich saß in der »Stardust«-Bar im 1112. Stockwerk des »Nebraska«, einem der sechs Skyscraper von Chicago, und genoß den zweigefärbten Himmel. Wenn ich mich nach links drehte, sah ich hinter der Panoramascheibe den sternübersäten Nachthimmel, über den die TELEXOM-Satelliten ihre Bahnen zogen. Der Mond zeigte nur eine schmale Sichel, so daß der rote Fleck im Meer der Tränen, wo vor zehn Jahren LUNIK 571 explodiert war, im Schatten lag und der Trabant wie der gute alte Silbermond aussah, von dem jahrtausendelang die Backfische geschwärmt und Generationen von Dichtern gezehrt haben. Drehte ich mich aber nach rechts, konnte ich die Abendsonne beobachten.
    Ich habe mich in diese Stunde zwischen Tag und Nacht verliebt, und ich muß gestehen, daß ich mich oft nach der »Stardust«-Bar zurücksehne, ja, daß ich wieder in die Staaten fahren würde, nur um diesen Augenblick noch einmal zu erleben. Wo kann man heute Sonne und Mond zugleich erblicken, seit Flugzeuge und Raumgleiter keine Fenster mehr haben? Die Tage, an denen die Wolkendecke aufreißt und man vom Erdboden aus wenigstens einen der beiden sehen kann, sind selten genug, und wer einmal den zweifarbenen Himmel gesehen hat, empfindet mit Wehmut, wie unvollkommen das Video trotz aller technischen Perfektion bleibt.
    Ich weiß natürlich, warum wir keine Hochhäuser bauen, die über die Wolken ragen, ich akzeptiere die Gründe, sie sind logisch und unanfechtbar, und doch habe ich Sehnsucht nach dieser Stunde, in der Sonne und Mond sich begegnen – ich bin halt ein unverbesserlicher Lyromantiker. Aber hätte ich sonst die Einreise in die USA bekommen? So seltsam es anmuten mag, ein Band Lyrik ist eine der wenigen Chancen, in die Alte Welt zu gelangen, seit Gedichte dort die einzige geduldete Literatur darstellen. Keiner meiner Romane, nicht einmal die Reportagen vom Saturn hätten mir ein Visum verschaffen können, doch das schmale Bändchen »Liebesgedichte aus dem Kosmos« bescherte mir eine Einladung von der Chicagoer Akademie, die sich als »Heimstätte der Weltlyrik« versteht.
    So reiste ich in die UNITED STATES oder, wie man sie dort zumeist nennt, die NIGHTED STATES, eine mir bis dahin unbekannte Ableitung von night – Nacht, die man wohl am treffendsten mit umnachtet übersetzt. Wie diese Verballhornung entstanden ist, habe ich nicht herausfinden können. Die einen sagten, sie sei nach dem Abfall der südlichen Staaten aufgekommen, als Spötter meinten, nun könne man nicht mehr von Vereinigten Staaten sprechen, und das U von United wegließen; andere erklärten es so, daß die Gegensätze im Land derart groß geworden seien, daß nichts sie mehr vereinen könne; sehr einleuchtend erscheint mir die Version, daß der Ursprung des Wortspiels in der Gleichsetzung der USA mit der übermächtigen Geheimpolizei NSA, der National Security Agency, liegt.
    Dem Programm nach hätte ich jenen Abend eigentlich auf einem Kolloquium über die Geschichte des Automobils verbringen sollen, doch die Einladung war – wie so viele andere auch – kurzfristig und ohne Angabe von Gründen zurückgezogen worden. Da ich keine Lust hatte, schon wieder ins Lichttheater zu gehen oder in meinem Appartement vor dem Videomat zu hocken, war ich in die Bar hinaufgefahren und hoffte, es würde sich vielleicht ein Gesprächspartner finden.
    Der Barkeeper merkte natürlich sofort, daß ich kein Staatler war, und zeigte sich weder an einem Gespräch über Lyrik noch an Informationen aus der Welt interessiert; wahrscheinlich hatte er Angst, daß man ihn vor das »Komitee für unpatriotisches Verhalten« zitieren und er am Ende seine Arbeit verlieren würde.
    Er mixte mir einen Drink und stellte sich demonstrativ an das andere Ende des langen Tresens und putzte Gläser; er putzte sie tatsächlich mit der Hand, eine der Besonderheiten der »Stardust«-Bar.
    Je näher der Augenblick des Sonnenuntergangs rückte, desto mehr füllte sich die Bar, bald waren alle Hocker am Tresen besetzt, nur die Plätze neben meinem Sitz blieben leer. Der Barkeeper zog jedesmal die Augenbrauen in die Höhe, wenn jemand sich nichtsahnend neben mich setzen wollte. Ich überlegte gerade, ob ich die Hoffnung auf ein Gespräch begraben und nur den Sonnenuntergang abwarten oder ob ich mir noch einen zweiten Drink
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