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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt
Autoren: Al Shaw
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Sehen Sie?«, keuchte Elsa. »Das kommt dabei heraus, wenn Sie sagen, dass alles wieder gut wird!« Sie wischte sich die Tränen von den Wagen, doch es folgten sofort neue.
    Er half ihr zurück ins Bett. Sie ließ zu, dass er sie trug, während die Schmerzen in ihren Muskeln nun wie eine natürliche Fortsetzung der Gefühle in ihrem Inneren schienen. Sie hatte getan, was sie konnte. Sie legte sich zurück auf die Matratze und er deckte sie zu wie die Invalidin, die sie vermutlich war.
    »Kennen Sie das«, schniefte sie, »wenn die Leute einem sagen, dass das Leben kurz ist und man jede Sekunde davon voll auskosten soll? Das ist einfach zu schwer. Zu schwer. Wenn jemandem zu vertrauen bedeutet, dass er einen verletzen kann, wenn man sich selbst eigentlich gar nicht kennt, wenn man glaubt, etwas zu wollen, und sich dann herausstellt, dass das Gegenteil der Fall ist, wenn man sich seiner Familie und seinen Freunden nicht öffnen kann, wenn man einkaufen und den Abwasch machen und Akten sortieren muss und da Fotokopierer sind und Zeitpläne und Terminkalender und alles andere, was einen davon abhält. «
    Daniel streckte den Arm aus und Elsa spürte, wie er ihr die Hand unters Kinn legte, dieselbe Geste, mit der ihr Dad immer ihren Kopf angehoben und ihr so ihr Selbstvertrauen zurückgegeben hatte, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war.
    Und dann tat er etwas, was sie ihn noch nie zuvor hatte tun sehen. Kein einziges Mal, das wurde ihr plötzlich klar, seit sie in Thunderstown lebte.
    Er lächelte.
    Er hatte das breiteste, herzlichste Lächeln, das sie je gesehen hatte. Seine Zähne waren kräftig und weiß und die für gewöhnlich so nachdenklichen, finsteren Falten um seine Augen glätteten sich und wichen neuen, um die Aufrichtigkeit dieses strahlenden, herzerwärmenden Lachens zu betonen.
    Er muss wirklich verrückt geworden sein, dachte sie, wenn er glaubt, dass es jetzt Grund zum Lachen gibt.
    Dann ließ er ihre Hand los und das Lächeln glitt von seinem Gesicht wie nasser Schnee von einem Ast. Er wurde wieder ernst. Einen langen Moment blickte er ihr in die Augen, dann nickte er und verließ das Zimmer.
    Damals wusste sie es noch nicht, aber sie sollte Daniel Fossiter nie wiedersehen.

Daniel Fossiter stand in der windstillen Dunkelheit auf dem Devil’s Diadem, den Klostermauern den Rücken zugekehrt, während über Thunderstown noch immer Finns Gewitter tobte.
    Die Nacht war zu dunkel, als dass man den Kumulonimbus vom Schwarz des Himmels hätte unterscheiden können. Nur wenn ein Blitz auf einen Schornstein oder den Glockenturm der Sankt-Erasmus-Kirche niederfuhr, offenbarte sich seine Gestalt: eine Festung aus Nebel, mit Türmen so hoch wie die Berggipfel. Mancher Blitz erhellte wuchtige Wolkenmauern und -zinnen, die das Licht reflektierten wie kalter Stein.
    Es war nicht das erste Gewitter, das er von diesem Kloster aus beobachtete. Er erinnerte sich daran, einmal als Kind mit seinem Vater hier oben gewesen zu sein, nicht lange nachdem seine Mutter sie verlassen hatte, und gemeinsam mit ihm ein Gewitter beobachtet zu haben, das gen Osten davonzog, ein rotes Heer in der Abendsonne. Damals hatte Daniel sich seinem Vater zugewandt und – das einzige Mal in seinem Leben – Tränen in dessen Augen gesehen. »Sieh einfach zu, wie es davonzieht, mein Sohn«, hatte sein Vater geflüstert. »Und nicht blinzeln. Vergiss keine einzige wunderschöne Sekunde davon.«
    Daniel hörte, wie jemand seinen Namen sagte, und drehte sich um.
    Dot war aus dem Kloster gekommen, um ihn zu suchen. Als sie sprach, schien ihre Stimme die ruhigeren Momente im Lärm des Gewitters aufzuspüren und sich dort einzunisten. »Es wird spät. Wollen Sie nicht reinkommen und etwas essen?«
    Er schüttelte den Kopf. Ein blauweißer Blitz leuchtete in der Sturmwolke auf.
    Dot musterte ihn einen Moment lang: seinen bis unter den Bart zugeknöpften Mantel und den zerbeulten Hut auf seinem Kopf. »Sie sehen aus, als wollten Sie irgendwohin.«
    Er zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, das will ich auch. Auch wenn ich nicht ganz sicher bin, wohin.«
    Der Donner brandete über sie hinweg wie mit riesigen Flügelschlägen. Dot wartete ab, bis er in der Ferne verschwunden war. »Möchten Sie, dass wir Ihnen etwas vom Essen übrig lassen?«
    »Das ist nicht nötig. Ich habe nicht vor wiederzukommen.«
    Sie schwieg und schien über das, was er gesagt hatte, nachzudenken. »Ich glaube«, erwiderte sie dann, »ich verstehe. Sind Sie sicher, dass
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