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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt
Autoren: Al Shaw
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zum Himmel gewandtes Gesicht. Der Regen brachte die alten Steine zum Zischen. Ein Blitz erhellte die Wolke. Die halbe Sekunde grellen Lichts definierte, was zuvor grenzenlos erschienen war. Wenn die Zeit nur einen Augenblick lang innehalten würde, dachte Daniel, könnte er jedes Detail der Gewitterwolke in sich aufnehmen, denn der Blitz hob jeden Nebelhauch, jede Furche, so haarscharf hervor wie die Schwarz-Weiß-Aufnahme eines Fotojournalisten. Als die Welt im nächsten Moment wieder in Dunkelheit getaucht war, schien es, als wäre er blind, innerlich und äußerlich.
    Daniel wischte sich den Regen aus den Augen und tastete nach dem Blitzableiter. Seine Hände zitterten, als er ihn fand. Die Entschlossenheit, die ihn hier heraufgetrieben hatte, war der Dunkelheit anheimgefallen wie Worte einem Klecks verschütteter Tinte. Ihm wurde bewusst, dass er sich fürchtete. So sehr wie noch niemals zuvor.
    Er sah gleißendes Licht.
    Und dann nichts mehr.

Als der Morgen graute, hatte das Unwetter sich gelegt. Der Tag versprach heiter und sonnig zu werden, mit einer angenehmen Brise aus Südwest, die die Hitze im Zaum hielt.
    In Thunderstown standen Männer und Frauen sprachlos in ihren Haustüren und starrten zum leuchtend blauen Himmel hinauf, der sich im Wasser der überfluteten Straßen spiegelte. Andere schöpften es mit Eimern und Wannen aus ihren Häusern, schüttelten die Köpfe und verfluchten Old Man Thunder. Kanarienvögel ließen sich auf den Wetterfahnen nieder oder jagten einander wie gelbe Lichtblitze zwischen den Schornsteinen.
    Oben auf dem Glockenturm der Sankt-Erasmus-Kirche lag der Körper eines Menschen mit dem Gesicht nach unten auf dem Steinboden. Es war ein Mann, kräftig gebaut, mit einem schwarzen Bart. Die Sonne hatte seine Haut und sein Haar getrocknet, jedoch noch nicht die Pfütze verdunsten lassen, in der er lag, seit der Sturm abgeflaut war. Hin und wieder erbebten die Schulterblätter des Mannes oder er gab ein schwaches Röcheln von sich, nur um dann für eine weitere Stunde in absolute Reglosigkeit zu verfallen. Jetzt, endlich, stieß er ein Stöhnen aus und versuchte sich aufzusetzen. Er stemmte sich ein Stückchen hoch und fiel zurück in die Pfütze. Er blieb noch eine Weile länger dort liegen, um hin und wieder einen Mundvoll Wasser auszuspucken. Dann rollte er sich stöhnend auf den Rücken. Einen Moment später setzte er sich mühsam auf und lehnte sich an die Wand. Flüssigkeit rann ihm aus Mund und Nasenlöchern.
    Der Mann neigte den Kopf zu jeder Seite, um sich das Wasser aus den Ohren zu schütteln, und rieb sich die Augen. Nach einer Weile gelang es ihm aufzustehen, so unsicher wie ein neugeborenes Kalb. Als er sein Gleichgewicht gefunden hatte, blinzelte er über die hell erleuchteten Dächer der Stadt und in die strahlende Sonne, die sich in den Fenstern spiegelte. Er rieb sich über sein bärtiges Gesicht.
    Und hielt inne.
    Er rieb sich abermals über das Gesicht, grub die Fingerspitzen in seine Wangen und betastete seinen Hals.
    »Hmm …«, murmelte er und schüttelte dann den Kopf. »Ich …« Wieder befühlte er seine Wangen und schob die Finger in seine schwarzen Locken.
    »Ich habe Haare«, sagte er.
    Doch als er daran zog, lösten sich ganze Strähnen unter seinen Fingern. Er blickte auf die schwarzen Büschel in seinen Händen und zupfte versuchsweise an seinen Barthaaren. Auch diese ließen sich abziehen, so leicht wie Moos von einem Stein.
    Er sank auf die Knie und beugte sich über die Pfütze, um sein trübes Spiegelbild zu betrachten. Er streckte einen zögerlichen Finger nach dem Gesicht aus, das er dort sah, und sprang erschrocken auf, als das Bild von Kreisen verzerrt wurde.
    Er zog noch immer an seinem Haar, fuhr mit beiden Händen hindurch und es rieselte rings um ihn herab. Er schöpfte sich Wasser über den Kopf und schrubbte auch noch den letzten Rest davon ab, bis sein Schädel vollkommen kahl war. Dasselbe wiederholte er mit seinem Bart und er spuckte und prustete, als eine Strähne davon in seinen Mund geriet. Er strich sich über den Kopf, prüfte seinen glatten Kiefer und Schädel. Jetzt, da die Pfütze sich wieder beruhigt hatte, betrachtete er erneut sein Spiegelbild. Er hatte etwas vergessen. Seine Augenbrauen, die sich fortwischen ließen wie Kreide von einer Tafel.
    »Wer bin ich?«, fragte er das Wasser. Er wartete auf eine Antwort, und als er keine bekam, schloss er die Augen, rieb sich verwirrt über den Kopf und fühlte sich schrecklich
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