Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Liebe eine Stimme geben

Der Liebe eine Stimme geben

Titel: Der Liebe eine Stimme geben
Autoren: Lisa Genova
Vom Netzwerk:
Buchhandlungen zu sehen, ihn in Händen zu halten, seinen Umschlag und sein Gewicht zu spüren.
    Sie öffnet ihre Tasche und entnimmt ihr einen dicken Stapel Papier. Beths Manuskript. Sie hält es in ihrem Schoß. Das ist der Grund, weshalb sie nach Nantucket gekommen ist. Dafür. Für ihre Antwort. Ihren Frieden.
    Während die Fähre sie zurück zum Festland bringt, blättert sie zu den letzten paar Seiten vor und lächelt, während sie ihren Lieblingsteil noch einmal liest. Sie genießt jedes Wort, lauscht mit ganzer Seele auf den schönen Klang von Anthonys Stimme.

EPILOG
----
    Liebe Mom,
    du besitzt die Antworten auf deine Fragen bereits. Du trägst sie in deinem Herzen. Aber dein Verstand sträubt sich noch immer dagegen. Ich verstehe, dass wir manchmal Bestätigung brauchen, dass wir Worte hören müssen. Ein wechselseitiges Gespräch.
    Ich war nicht hier, um die Dinge zu tun, von denen du geträumt und sogar befürchtet hast, ich würde sie tun, bevor ich geboren wurde. Ich war nicht hier, um in der Little League zu spielen, zum Schulabschlussball zu gehen, aufs College zu gehen, in den Krieg zu ziehen, Arzt oder Anwalt oder Mathematiker (und ich wäre ein toller gewesen!) zu werden. Ich war nicht hier, um ein alter Mann zu werden, verheiratet zu sein, Kinder und Enkelkinder zu haben. All das ist von anderen getan worden oder wird getan werden.
    Und ich war nicht hier, um anderen zu helfen, um Immunologie, Gastroenterologie, Genetik oder Neurowissenschaft zu verstehen. Ich war nicht hier, um das Rätsel des Autismus zu lösen. Diese Antworten sind aufgeschoben auf ein andermal.
    Ich kam hierher, um einfach zu sein, und der Autismus war das Hilfsmittel meines Seins. Auch wenn mein kurzes Leben manchmal schwierig war, bereitete es mir große Freude, Anthony zu sein. Der Autismus machte es mir schwer, zu dir und Dad und anderen Leuten über Dinge wie Blickkontakt und Gespräche und eure Aktivitäten Verbindung aufzunehmen. Aber ich war gar nicht interessiert daran, auf diese Weise Verbindung aufzunehmen, daher hatte ich nicht das Gefühl, dass mir etwas fehlte. Ich habe auf andere Weise Verbindung aufgenommen, durch das Lied eurer Stimmen, die Energie eurer Emotionen, den Trost, in eurer Nähe zu sein, und manchmal, in den Momenten, die mir am meisten bedeuteten, durch das Teilen der Erfahrung von etwas, was ich liebte – den blauen Himmel, meine Steine, die Geschichte von den drei kleinen Schweinchen.
    Und dich, Mom. Ich habe dich geliebt. Du hast gefragt, ob ich fühlen und verstehen könnte, dass du mich liebst. Natürlich habe ich das getan. Und du weißt es. Ich habe deine Liebe geliebt, weil sie dafür gesorgt hat, dass ich mich sicher und glücklich und gewollt gefühlt habe, und sie hat jenseits von Worten und Umarmungen und Augen existiert.
    Das bringt mich zu dem anderen Grund, weshalb ich hier war. Ich war für dich hier, Mom. Ich war hier, um dich etwas über die Liebe zu lehren.
    Die meisten Menschen lieben mit einem vorsichtigen Herzen – nur, wenn bestimmte Dinge passieren oder nicht passieren, nur bis zu einem gewissen Grad. Wenn der Mensch, den wir lieben, uns verletzt, uns verrät, uns im Stich lässt, uns enttäuscht, wenn dieser Mensch schwer zu lieben wird, dann hören wir oft auf zu lieben. Wir schützen unser empfindliches Herz. Wir machen dicht, verkriechen uns, wenden uns ab, lösen uns, ziehen uns zurück. Wir hassen vielleicht sogar.
    Die meisten Menschen lieben nicht bedingungslos. Die meisten Menschen werden nie gebeten, mit einem ganzen und offenen Herzen zu lieben. Sie lieben nur teilweise. Und sie kommen damit zurecht.
    Der Autismus war mein Geschenk an dich. Mein Autismus hat mir nicht gestattet, dich zu umarmen und zu küssen, er hat mir nicht gestattet, dir in die Augen zu sehen, er hat mir nicht gestattet, die Worte laut zu sagen, die du so unbedingt mit deinen Ohren hören wolltest. Aber du hast mich trotzdem geliebt.
    Du denkst: Natürlich habe ich das getan. Jeder hätte das getan. Aber das stimmt nicht. Mich mit einem vollen und annehmenden Herzen zu lieben, alles von mir zu lieben, verlangte von dir, zu wachsen. Trotz deines Leids und deiner Enttäuschung, deiner Ängste und deiner Frustration und deines Schmerzes, trotz all dem, was ich dir nicht im Gegenzug zeigen konnte, hast du mich geliebt.
    Du hast mich bedingungslos geliebt.
    Du hast diese Art Liebe nicht mit Dad oder deinen Eltern oder deiner Schwester oder irgendjemandem sonst erfahren. Aber jetzt weißt du,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher