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Öl auf Wasser - Roman

Öl auf Wasser - Roman

Titel: Öl auf Wasser - Roman
Autoren: Verlag Das Wunderhorn <Heidelberg>
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1.
    Ich gehe einen vertrauten Weg. Die Ereignisse links und rechts sind säuberlich gelistet und datiert, doch auf halber Strecke lässt die Erinnerung meine Hand fahren und Nebel steigt auf und verhüllt Orte und Gesichter, und mir bleibt nur, mich verloren durch die Dunkelheit zu tasten und die verschwommenen Augenblicke im Weitergehen neu zusammenzufügen, die Gesichter und Orte, sogar die Gefühle. Manchmal muss ich, wenn ich nicht vom Weg abkommen will, an deutlich erkennbare Markierungen zurückkehren und kann erst dann, mit diesem Sicherheitsnetz unter mir, auf weniger gesichertes Gelände springen.
    Ja, es stimmt, es gab einen Unfall, ein Feuer. Eine Explosion im Lager mit den Ölfässern. Der Wind trug das Feuer von Haus zu Haus, und innerhalb weniger Minuten stand die halbe Stadt in Flammen. Viele starben. Auch Johns Vater. Man erzählt sich, dass er starb, als er versuchte, meine Schwester Boma zu retten, und sie umgekommen wäre, wenn er nicht gewesen wäre. Mein Vater kam ins Gefängnis. Seit damals raucht er nicht mehr. Meine Mutter ist in das Dorf ihrer Eltern zurückgegangen. Sie lebt immer noch dort. Und während meine Schwester brannte und meine Familie auseinanderbrach, war ich in Lagos, hörte mir einen Vortrag an, aß in einem chinesischen Restaurant zu Abend, versuchte, das Rätsel vom verrückten Vergewaltiger zu lösen, und erfuhr erst von der Tragödie, als ich mit meinem Abschlusszeugnis als Journalist wieder nach Hause kam.
    Nein, es war kein Unfall an der Pipeline, wie ich es dem Weißen erzählt und in meinem Artikel geschrieben habe. Aber es hätte unschwer einer sein können, wie in zahllosen anderen Dörfern auch. Mein Vater ist immer noch im Gefängnis. Boma und ich gehen ihn noch immer besuchen, und jedes Mal, wenn er ihr Gesicht sieht, wendet er sich ab und seine Hände zittern, und sie geht seit kurzem nicht mehr hin. Mutter kommt einmal im Monat aus dem Dorf herüber und besucht ihn. Ab und zu begleite ich sie und beobachte, wie sie miteinander umgehen: Manchmal haben sie eine Menge zu besprechen, und manchmal starren sie sich nur schweigend an. Zuletzt bin ich vor gut einem Monat mit ihr mitgegangen. Ich saß etwas abseits, aber ich konnte hören, was sie beredeten: Sie erzählte ihm vom Leben im Dorf, auf dem Hof, wie gut dieses Jahr die Ernte war. Er hörte ihr zu, nickte und starrte sie die ganze Zeit an, versuchte, ihren Blick einzufangen, doch sie mied seine Augen, solange sie erzählte. Und sie rief mir zu: Rufus, komm her. Warum stehst du so weit weg, dort, am Fenster? Der Wärter tat so, als läse er Zeitung, aber er beobachtete uns die ganze Zeit. Ich erinnere mich, dass der Raum nach den gerösteten Erdnüssen roch, die Mutter Vater mitgebracht hatte. Ich erinnere mich, dass der Wärter einen Kahlschädel hatte. Mutter sah dünner aus, dunkler.
    Der Nebel lichtete sich so plötzlich, wie er aufgekommen war, und die Sonne strahlte, und ich bewegte mich wieder auf sicherem Grund, auch wenn ich wusste, dass der Nebel wiederkommen, sich vor das Auge meiner Erinnerung schieben und es einen Augenblick lang blenden konnte.

    Nach einiger Zeit sahen Himmel und Wasser und das dichte Blattwerk an den Ufern völlig gleich aus: blau und grün und blaugrün umschleiert. Die ganze Landschaft kam mir vor wie ein bloßer Taschenspielertrick des Lichts, dampfend und die Gestalt ändernd, hinter dem Nebel aufscheinend und vergehend. Es war noch früh am Morgen, doch wir hockten bereits seit über zwei Stunden in diesem Boot, hatten das offene Meer hinter uns gelassen und fuhren einen Nebenfluss hinauf in Richtung Westen. Seit langer Zeit schon war Irikefe Island, die ihrer einzigartigen, sichelförmigen Küste wegen auch Halbmondinsel genannt wurde, hinter uns versunken, verschluckt von der Entfernung und einer Finsternis, die dieser Dunst, der wie Rauch von den Flussufern aufstieg, über uns warf. In der Flussmitte war das Wasser klar, näher an den Ufern aber stand es brackig, eingeschlossen von den Mangroven, in deren Zweigen der Dunst in Klumpen hing wie Baumwollbällchen. Vor uns wölbte er sich wie eine Brücke über das Wasser. Manchmal, wenn wir in einen besonders schmalen Seitenarm einbogen, wurde unser leichtes Holzkanu derart von diesem dichten, grauen Etwas umfangen, dass wir einander nicht mehr sehen konnten, während wir stumm durch das Wasser glitten. Ich war nass, mir war kalt und ich hatte Hunger, und ich fragte mich nicht zum ersten Mal, ob es eine gute Idee gewesen
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