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Der Liebe eine Stimme geben

Der Liebe eine Stimme geben

Titel: Der Liebe eine Stimme geben
Autoren: Lisa Genova
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mitten auf der Straße, nimmt all die Narzissen wahr, ein Meer aus leuchtender, unerwarteter Farbe, wie drei Millionen gelber Phönixe, die sich triumphierend aus dem Aschgrau erheben. Das Leben kehrt zurück. Es war ungewöhnlich warm dieses Jahr, und die Narzissen sind zwei Wochen früher aufgeblüht als sonst. Sie sind überall. Und sie sind wunderschön.
    In vielen Auffahrten stehen jetzt Autos, in vielen Häusern sind die Fenster geöffnet. Während sie geht, hört sie in der Nähe einen Rasenmäher und in der Ferne jemanden hämmern. Sie riecht Mulch und Farbe. Der Frühling ist da.
    Vor Beths Haus bleibt sie stehen. Die Auffahrt ist leer. Vermutlich sind sie bereits drüben in ’Sconset. Sie hat gesagt, sie würden heute ein Wagenpicknick machen. Zwei Adirondack-Stühle stehen nebeneinander im Vorgarten, hell und strahlend weiß, frisch gestrichen. Olivia lächelt. Sie schaut auf ihre Armbanduhr. Sie wird keine Zeit haben, sich von Beth zu verabschieden, bevor sie abfährt, aber sie wird sie bald wiedersehen.
    Bevor sie sich auf den Nachhauseweg macht, geht sie ein letztes Mal zu ihrem Briefkasten, um nach der Post zu sehen. Sie öffnet das Türchen. Keine Post. Gut.
    Sie geht zurück zu ihrem Cottage, einem Haus, das sie und David für ihre Zukunft gekauft hatten. Es war ein hübscher und romantischer Plan, aber es sollte nicht sein. Für jemand anderen vielleicht. Auf der Straße vor ihrem Haus bleibt sie stehen, vor den grauen Zedernschindeln mit der weißen Borte, der überdachten Veranda, dem steinernen Fußweg. Das ZU - VERKAUFEN -Schild, das am Straßenrand im Vorgarten steckt, schimmert hell, spiegelt das Sonnenlicht wider. Sie seufzt. Für jemand anderen.
    Sie hat schon gepackt. Bereits gestern hat sie fast alles verschifft, und der Rest liegt in ihrem Jeep. Ihr Gepäck ist heute sogar leichter als vor etwas über einem Jahr. Sie muss nicht noch einmal ins Haus gehen.
    Bevor sie in ihren Jeep steigt, setzt sie sich im Gras in die Sonne, die jetzt schon viel höher am Himmel steht als eben noch am Strand, und bewundert ihre Narzissen. Sie hat in diesem Jahr ein Dutzend mehr gepflanzt, sodass es jetzt achtzehn sind. Achtzehn glückliche gelbe und weiße Blumen, die in der sanften Brise tänzeln und den Narzissentag feiern.
    Das Versprechen eines Neuanfangs.
    Und sie feiern den heutigen Tag über einem Beet aus weißen Steinen, die gleichmäßig auf der Erde um sie herum verteilt sind. Ein Steingarten und achtzehn Narzissen. Das perfekte Zuhause für Anthonys Steine.
    Sie spielt mit dem Gedanken, den Stein, den sie heute Morgen gefunden hat und noch immer in der Hand hält, dazuzulegen, aber dann überlegt sie es sich anders. Stattdessen hebt sie noch zwei vom Boden auf und hält alle drei in ihrer Hand. Drei. Drei Steine. Das ist alles, was sie braucht.
    Sie pflückt eine einzelne Narzisse, atmet ihren buttersüßen Duft ein und steckt sie sich über dem rechten Ohr ins Haar. Dann steigt sie in ihren Jeep, wirft einen letzten Blick auf ihr Cottage, ihre Narzissen und Anthonys Steine und fährt los.
    Die Expressfähre nach Hyannis ist nicht voll besetzt, und sie hat die freie Auswahl bei den Fensterplätzen. Heute reisen die Leute nicht von Nantucket ab. Sie sind hier, um die Narzissen zu sehen. Olivia hat genug gesehen. Der Motor der Fähre beginnt zu tuckern, und sie setzen sich in Bewegung.
    Sie lässt ihre Tasche auf ihrem Platz liegen und geht die Treppe hoch und hinaus zum hinteren Teil der Fähre. Als sie sich dem Leuchtturm von Brant Point nähern, nimmt sie einen Penny aus ihrer Hosentasche und wirft ihn ins Meer, eine Tradition, die das Versprechen symbolisiert, zu der Insel zurückzukehren. Sie wird wiederkommen. Sie wird wiederkommen, um Beth und Jimmy zu besuchen.
    Lange steht sie an der Reling und blickt zurück, während immer mehr Ozean sie von dieser winzigen Insel trennt. Sie sieht zu, wie die Boote im Hafen, die beiden Kirchtürme, die Gebäude in der Stadt und die grauen Häuser, die die Küste sprenkeln, immer kleiner und kleiner werden. Und bald ist Nantucket verschwunden.
    Das Schiff nimmt Fahrt auf. Olivia geht zu ihrem Platz im Inneren der Fähre zurück, mit Blick nach vorn. Sie kehrt zurück zu ihrer Arbeit, zurück zu Taylor Krepps, aber diesmal als Lektorin für Belletristik. Sie ist bereit und aufgeregt. Ihr erstes Buch wird eines sein, das sie Louise selbst gebracht hat, der Debütroman von Elizabeth Ellis. Sie kann sein Erscheinen kaum erwarten, brennt darauf, ihn in den
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