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Über Bord

Titel: Über Bord
Autoren: Ingrid Noll
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Der Herbstwind fegte die ersten bunten Blätter auf die Straße. Auf den Besen gestützt stand die alte Frau vor ihrem Anwesen, pausierte ein wenig, schnüffelte nach dem Rauch eines fernen Laubfeuerchens, starrte auf ein Loch in ihrem Gummistiefel und bot in diesem Augenblick das perfekte Bild einer Hexe. Mit einem Seufzer richtete sie sich schließlich wieder auf, um weiterzukehren.
    Direkt vor ihr blieb plötzlich ein junger Mann stehen, der sich bei steilem Hochblicken als der Freund ihrer Enkelin Amalia entpuppte. »Guten Tag, Frau Tunkel!«, sagte Uwe höflich. »Schauen Sie mal, wen ich hier habe!« Und er öffnete den Reißverschluss seiner Jacke und zeigte ihr einen niedlichen Welpen, der die Äuglein ein wenig öffnete und herzhaft gähnte.
    Ob sie wollte oder nicht, Hildegard verzog das Gesicht zu einem Lächeln, sah auch über das verhasste Piercing hinweg und musste das Wollknäuel einfach mal streicheln.
    »Wo haben Sie den denn her?«, fragte sie, beinahe milde.
    Uwe hatte ihn gefunden, und zwar war der Kleine vor einer Kirche ausgesetzt worden wie in früheren Zeiten die Findelkinder. Wohl oder übel werde er das verwaiste Hündchen jetzt ins Tierasyl bringen, meinte er, denn er habe keine Zeit, sich darum zu kümmern, außerdem mochte sein Vater keine Hunde. Womöglich müsse man den Welpen einschläfern, wenn man im Heim keinen Platz für ihn habe.
    »Warten Sie«, sagte Hildegard kurzentschlossen. »Das ist ja noch ein richtiges Baby! Ein Flaschenkind! Wissen Sie was, ich werde es übergangsweise behalten, und Sie suchen inzwischen eine Familie mit Kindern, wo es aufwachsen kann. Es ist doch hoffentlich ein Mädchen?«
    Uwe grinste, er wusste genau, dass ein Rüde im Nonnenkloster keine Chance hätte. Er hatte die Sache fein eingefädelt, als er den vier Wochen alten Welpen vom Bauernhof eines Freundes versuchsweise mitgenommen hatte. Wenn so ein unschuldiges, verspieltes Hundekind sich einmal ins Herz der Alten eingeschlichen hätte, würde sie ihn nie wieder hergeben. Und er stellte sich vor, wie Amalia und er Abend für Abend und Hand in Hand mit dem Hund spazieren gehen könnten. Allzu viele gemeinsame Interessen hatten sie ja leider nicht, aber beide waren naturverbunden und hielten sich gern im Freien auf. Deswegen zweifelte er keine Sekunde, dass seine Freundin vom neuen Hausgenossen entzückt sein würde.
    Schon nach einer guten Woche blühte Hildegard regelrecht auf, weil sie nun das Alphatier für einen Wollknäuel war, der ihr ständig hinterherwuselte. Da sie sich immer noch stundenlang im Garten aufhielt, gab es auch nur wenige Pfützen im Haus, wahrscheinlich würde Penny in einigen Wochen stubenrein. Eigentlich gab es nur noch ein Problem: Ihre Tochter Ellen, die bei ihr wohnte und demnächst von ihrer dubiosen Kreuzfahrt zurückkam, hasste Hunde. Sollte sie Ellen beim nächsten Telefonat schonend auf Penny vorbereiten? Oder Amalia einweihen und ihr den diplomatischen Drahtseilakt aufbürden? Da kam der Anruf ihrer Enkelin aus Monte Carlo wie gerufen: Amalia wollte zuerst einmal wissen, ob es der Oma gutgehe und ob Uwe sie ein weiteres Mal zum Einkaufen gefahren habe.
    »Er ist eigentlich doch ein braver Junge«, sagte die Alte. »Ich habe ihn bisher auf Grund von Äußerlichkeiten vielleicht falsch eingeschätzt, das tut mir leid. Wir waren nicht nur einkaufen, sondern gestern sogar beim Tierarzt.«
    Nun war es heraus, und Amalia staunte. Sie bekam die Geschichte von der kleinen Penny zu hören und ob es vielleicht besser wäre, wenn Ellen vorgewarnt würde.
    Amalia lachte und versprach, das zu übernehmen. Dann erzählte sie der Großmutter vom bisherigen Verlauf der Reise und natürlich die aufregende Sache von Ortruds Verschwinden auf Nimmerwiedersehen.
    Wie bitte, Gerds Frau war abgetaucht? Hildegard hatte allerdings geahnt, dass diese Frau nur Scherereien machen würde. Vor dieser Kreuzfahrt mit den neuen Verwandten hatte sie Ellen und Amalia von Anfang an gewarnt. Schließlich kannten sie Gerd und Ortrud kaum. Und es wäre sowieso besser, wenn nicht nur Ortrud, sondern auch dieser Gerd wieder aus ihrem Leben verschwänden.
    »Oma, ich weiß nicht genau, wie ich Mamas Gefühle einschätzen soll. Teils leidet sie mit ihrem Gerd, teils ist sie wohl froh, dass wir die Schnapsdrossel los sind.«
    »Sie soll sich bloß nicht gleich als Nachfolgerin fühlen«, sagte Hildegard. »Dieser Mann ist skrupellos, mit Sicherheit hat er seine Frau umgebracht! Ein Blaubart, so sind sie doch
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