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Über Bord

Titel: Über Bord
Autoren: Ingrid Noll
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Mittwoch, und die Praxis blieb am Nachmittag geschlossen. »Wir wollen nach Mannheim zum Shoppen.«
    Ellen seufzte bloß. Ihre Tochter steckte das gesamte Gehalt in ihre Garderobe, kein Gedanke daran, dass sie sich wenigstens am Benzin beteiligte oder einen kleinen Beitrag für Telefon, Heizung und Verpflegung beisteuerte.
    »Wenn man den lieben langen Tag weiße Laborschuhe tragen muss«, versuchte Amalia ihre Mutter zu beschwichtigen, »dann braucht man privat etwas Schickes. Ich habe neulich Stiefeletten im Antik-Look gesehen…«
    Hätte ich auch gern, dachte Ellen, aber die Rechnung für den Rohrbruch ist noch fällig. Die Villa war zwar von den wohlhabenden Vorfahren als repräsentative Familienresidenz gebaut worden, aber seit vielen Jahren renovierungsbedürftig. Wenn man das eine Loch notdürftig geflickt hatte, ging es an anderer Stelle los. Ihre Mutter hatte früher die größere Wohnung vermietet, und auch damals schon waren die Einnahmen meistens für Reparaturen draufgegangen. Aber als die letzten Mieter kündigten, zog sie, frisch geschieden, mit ihren Töchtern im Parterre ein. Seitdem schwebte ein Damoklesschwert über ihnen, weil längst ein neuer Brenner fällig war, das Dach undicht war und eigentlich zwei morsche Bäume gefällt werden mussten.
    Ellens Exmann hatte zwar für die Ausbildung der Töchter gesorgt, aber inzwischen war nichts mehr von ihm zu erwarten, denn er war arbeitslos und hatte auch keine Aussicht auf einen neuen Job. Wenigstens Clärchen konnte von einem Stipendium leben, arbeitete nebenher in der Werbeagentur ihres Freundes als Grafikerin und gab am Wochenende bei der VHS einen Kurs für Manga-Zeichnen – kam also finanziell über die Runden. Amalia verdiente relativ wenig und überzog stets ihr Konto. Eigentlich war Ellen regelrecht dazu verpflichtet, einen reichen Gönner zu finden, der sich für die ehemalige Schönheit einer Jugendstilvilla begeisterte und Freude an einer behutsamen Instandsetzung fand.
    Um das wenige Geld zusammenzuhalten, briet die alte Frau jeden dritten Abend eine sächsische Süßspeise, die von den Kindern früher heißgeliebten Quarkkeulchen. Inzwischen war es oft genug der Ersatz für Fleisch geworden, ein simpler Sattmacher, über den Amalia die Nase rümpfte. Das Rezept war einfach: Geriebene Pellkartoffeln wurden mit Quark, einem Ei und Mehl vermischt, mit Zucker, Zimt, Rosinen und Zitronenschale gewürzt und in Butterschmalz goldbraun gebraten. Dazu gab es Apfelmus – alles in allem ein preiswertes und leckeres Gericht, das Ellen, Amalia und vielleicht sogar die kochende Hildegard allmählich hassten. Die Alternative waren Bratkartoffeln mit Speck und zwei verquirlten Eiern oder Linsensuppe. Sparen war eben mit Verzicht verbunden, Steaks kamen nie auf den Tisch.
    Während Ellen in ihrem Polo dem Ziel entgegenbrauste, hatte sie den seltsamen Wachtraum, dass sie mit wehenden Haaren auf einem Schimmel galoppierte, schwerelos und flink, die Hufe berührten kaum den Boden. In einem anderen Leben war ich eine Prinzessin, dachte sie, irgendwann wird sich auch ein Prinz einstellen. Und mit dieser Hoffnung betrat sie schließlich das Großraumbüro des Einwohnermeldeamts.

2

    Als Amalia noch zur Schule ging, glänzte sie im Gegensatz zu ihrer Schwester nie durch gute Leistungen. Ihre Hefte fielen durch herausgerissene Seiten auf, mit acht Jahren schrieb sie zum Leidwesen anderer beharrlich mit Kreide auf Schultafeln, Toiletten- und Garagentüren: Wer das liest, ist doof. Am liebsten vertrödelte sie sonnige Tage im Garten, kletterte auf Bäumen herum, fing zuweilen sogar einen Jungvogel und versuchte, ihn mit Würmern zu füttern. Hildegard Tunkel konnte sich bei dieser Enkelin zwar nicht über gute Zeugnisse freuen, doch über ihr kindliches Interesse an der Natur, das die eigenen fünf Kinder nie gezeigt hatten.
    »Eiben sind ziemlich giftig«, belehrte sie das kleine Mädchen, »aber sieh mal, was ich kann!«, und sie steckte eine der roten Beeren in den Mund. »Wenn man ganz vorsichtig die kleinen Kerne mit der Zunge herauslöst und ausspuckt, darf man das Fruchtfleisch durchaus essen« – die alte Frau machte es vor – »und es schmeckt gut, aber ich bitte dich! Es muss unser Geheimnis bleiben.«
    »Die Vögel essen die Beeren ja auch«, sagte Amalia, denn sie beobachtete alle Lebewesen im Garten sehr genau.
    Heute versuchte Amalia bei jeder Gelegenheit, das Neonlicht der Arztpraxis durch möglichst viel Sonne in der Freizeit auszugleichen.
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