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Über Bord

Titel: Über Bord
Autoren: Ingrid Noll
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aus Pietät nicht erschienen. Man hatte die Urne inmitten weißer Lilien aufgebahrt, an Kerzen war nicht gespart worden. Nach der üblichen Orgelmusik hielt ein Pfarrer eine unpersönliche Rede, denn er schien die Tote nicht gekannt zu haben. Ellen saß zwischen Brigitte und Matthias, hörte sich die christlichen Worte nicht an, sondern zählte unauffällig die anderen Gäste, sie kam auf dreiundfünfzig. Sollte sie Gerds Kindern den Stick schon jetzt ganz unauffällig oder erst am offenen Grab vor aller Augen übergeben?
    Nach der Predigt schob sich der alte Mann aus der hintersten Reihe mit Hilfe eines Rollators nach vorn, Gerds Kinder halfen ihm. Offenbar hatte niemand mit einer weiteren Rede gerechnet, denn es ging ein verwundertes Raunen durch den Saal. Mit brüchiger Stimme setzte der Greis ein, tief bewegt und ein wenig verwirrt. Er hoffe, dass die Zwillingsschwestern im Jenseits glücklich vereint seien, aber er sei nicht in der Lage, im Moment des Abschieds über seine verstorbene Tochter zu sprechen. Um aber allen, die in Trauer und Liebe für die Tote hier versammelt seien, Trost zu spenden, habe er Ortruds liebste Arie aus der Zauberflöte mitgebracht. Auf einen Wink erscholl der volltönende Bass des Sarastro aus der berühmten Mozartoper. Der alte Herr begab sich wieder zu seinen Enkeln und weinte, und beim magischen Zauber von Musik, Lilienduft und Kerzen weinten auch viele Trauergäste.
In diesen heil’gen Hallen
Kennt man die Rache nicht,
Und ist ein Mensch gefallen,
Führt Liebe ihn zur Pflicht.
    Ortrud gibt mir ein Zeichen, dachte Ellen, sie hat mir vergeben, und bittet mich, keine Rache zu nehmen!
Wo Mensch den Menschen liebt,
Kann kein Verräter lauern,
Weil man dem Feind vergibt.
    Als etwa fünf Schweigeminuten verstrichen waren, nahte ein diskreter, in eine graue Dienstuniform gekleideter Angestellter und trug die Urne gemessenen Schritts bis an jenen Ort, wo bereits eine kleine Grube ausgehoben war. Ihm folgten der Pfarrer und der gesamte Trauerzug. Der Inschrift auf dem Grabstein war zu entnehmen, dass hier bereits Ortruds Mutter und Zwillingsschwester ruhten. Als die milchigweiße Urne versenkt war, traten die Trauernden dicht heran, um eine Blume oder eine symbolische Handvoll Erde ins Grab zu werfen. Gerd war der Erste, seine Kinder und der alte Vater taten es ihm nach. Ellen drängte sich ein wenig vor, um als Nächste vor der Öffnung zu stehen, denn ihr großer Auftritt war jetzt gekommen. Sie zog den USB -Stick aus der Tasche und schleuderte ihn effektvoll in die Tiefe, wo das Metall mit einem feinen, klingenden Ton auf ein noch unbedecktes Stück Alabaster traf.
    Gerd stand in diesem Moment direkt neben Ellen und wurde blass. »Das war ein Versehen«, murmelte er zu den Umstehenden und wollte rasch niederknien und den Stick wieder herausangeln. Ellen hielt ihn am Ärmel fest und flüsterte: »Lass liegen, es ist meine Gegengabe für die Kreuzfahrt.«
    Schon waren die Nächsten an der Reihe, die den kleinen Zwischenfall entweder nicht beachtet hatten oder für einen besonders intimen, geheimen Freundschaftsbeweis hielten. Schließlich wurde die Grube zugeschüttet, festgestampft und das Erdreich mit Blumen und Kränzen bedeckt. In Andacht versunken standen alle eine Weile stumm daneben, dann begab man sich zum Parkplatz, um im Konvoi zum vorgesehenen Gasthaus zu fahren.
    Ob er sich irgendwann wieder herschleicht, um in Ortruds Grab zu buddeln?, überlegte Ellen und stieg zu Matthias und Brigitte ins Auto. Als sie sich vorstellte, wie Gerd mit bloßen Händen in der Erde herumwühlte und dabei von einem Friedhofsgärtner ertappt wurde, zuckten erst nur ihre Mundwinkel, dann musste sie peinlicherweise leise lachen. Ihr Bruder drehte sich befremdet nach ihr um.
    »Ich habe mich vorhin ein wenig mit Gerds Tochter Franziska unterhalten«, erzählte Brigitte, um die Situation zu entschärfen. »Es fiel mir auf, dass sich die Kinder lieber an ihren Großvater hielten, statt als Familie alle zusammen in der vordersten Reihe zu sitzen.«
    »Hast du etwas Näheres über irgendwelche Animositäten erfahren?«, fragte Matthias. »Erbschaftsquerelen oder so?«
    »Nicht direkt«, sagte Brigitte. »Die Tochter hat allerdings angedeutet, dass ihre Mutter depressiv war, doch das ahnten wir ja schon lange. Aber sie hat noch eine mysteriöse, etwas zynische Bemerkung gemacht, dass Gerd immer gewusst habe, wie man sich tröstet.«
    »Ich habe auch etwas läuten hören«, sagte Matthias, »wenn auch
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