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Über Bord

Titel: Über Bord
Autoren: Ingrid Noll
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sich über ihr Kommen wie ein Baby, das morgens das Gesicht seiner Mutter erkennt. Trotz ihrer Voreingenommenheit konnte Ellen nicht umhin, die kleine Penny zu streicheln, was Hildegard mit Erleichterung zur Kenntnis nahm. Es fing an zu nieseln, die Hundepfoten hinterließen erdige Spuren auf Ellens heller Hose, aber es war ihr egal.
    »Bist du dem Teufel begegnet, meine Kleine?«, fragte Hildegard. »Komm rein, ich mache uns einen Pfefferminztee.«
    In der Küche saßen bereits Uwe und Amalia, anscheinend hatte Hildegard die Anwesenheit des langen Labans inzwischen akzeptiert. Uwe trug die Murmeltierkette am Hals und wirkte für die Großmutter noch subversiver als zuvor, aber andererseits war er zuverlässig und eine Seele von Mensch. Amalia tat recht, ihn nicht einfach gegen einen windigen Bariton oder Tenor einzutauschen.
    Als wäre sie gerade aus einem fernen Land zurückgekommen, musterte Ellen die Küche mit neuem Blick. Man müsste alles rausschmeißen und neu einrichten, dachte sie, Amalia hat es neulich schon moniert. Die uralten Elektroplatten sind immer mit hässlichen, rotgeblümten Emailtöpfen vollgestellt, weil es nicht genug Regale gibt, auf dem brummenden Kühlschrank stehen schmierige Öl- und Essigflaschen, den PVC -Boden müsste man herausreißen und die darunterliegenden alten Holzdielen abschleifen und ölen. Bei Gerd sah es anders aus, eine offene Designerküche mit neuester Technik und kleinen, feinen Akzenten – zum Beispiel einer Bordüre aus maurischen Fliesen. Ortrud hatte in dieser Hinsicht tatsächlich Geschmack bewiesen.
    Ellen geriet ins Nachdenken und hörte erst wieder hin, als Amalia das Lieblingslied ihrer Großmutter anstimmte: Grün, grün, grün sind alle meine Kleider… Uwe ließ seine Hemmungen fallen und trällerte mit.
    Amalia war bester Dinge, denn ihr Schwangerschaftstest war negativ ausgefallen. Obwohl sie nur Pfefferminztee getrunken hatte, schmetterte sie lauthals los, und die anderen fielen ein, nur Ellen schwieg. Tot, tot, tot sind alle meine Träume, dachte sie. Wortlos verließ sie die fröhliche Runde und ging in ihr Schlafzimmer, wo der Computer stand. Sie hatte noch immer nicht alle Dateien vom USB- Stick gelesen.
    Im Ordner Entwürfe fanden sich ein Schreiben an einen Rechtsanwalt, eine Hausordnung und Exposés für Briefe und Mails. Schließlich stieß Ellen auf die Rohfassung einer Mail, die offenbar nicht verschickt worden war.
    Mein liebes kleines Fabeltierchen, wo bist Du nur? Ich versuche dauernd, Dich zu erreichen. Dein Vorschlag ist natürlich fabelhaft, ich habe aber viel effektivere Maßnahmen geplant! Ich werde O. mit Alkohol versorgen, bis sie halb im Koma liegt, dann einen Herzanfall vortäuschen und mich auf die Krankenstation verlegen lassen. Die Schwester pflegt den Wecker zu stellen und nur alle drei Stunden nach dem Rechten zu sehen, zwischendurch schläft sie wie eine Tote – das weiß ich noch von der letzten Reise. Irgendwann werde ich mich leise aus dem Raum stehlen, mit dem Lift nach oben fahren und in unserer Suite tabula rasa machen. Warte nur ab, diesmal bin ich mutig und demnächst endlich frei. Wish you were here.
My darling, alles wird gut!
L. G. Dein Gerd
    Das war ja wohl das Letzte! Fast hätte Ellen schwören können, dass das geliebte Fabeltierchen jene Fabiola aus Gerds Büro war. Wie lange mochte das schon gehen? Und war sie am Ende eine Freundin seines Sohnes gewesen, so jung, wie sie war? Ortrud hatte ja eine diesbezügliche Bemerkung fallenlassen. Das erklärte natürlich, warum sich Gerds Kinder von ihren Eltern distanziert hatten. Wenn Ellen diesen Brief richtig deutete, dann hatte ihr vergötterter Monsieur Dornfeld vorgehabt, seine Madame eigenhändig über Bord zu befördern, und Ellen war dumm genug gewesen, ihm diese Arbeit abzunehmen. Er wiederum musste glauben, dass Ortrud versehentlich oder auch freiwillig ins Meer gestürzt war.
    Ellen fühlte sich erleichtert. Ortrud wäre so oder so tot, wenn nicht durch Ellens Tatkraft, dann durch Gerds effektive Maßnahmen. Und sicherlich hätte Ortrud in ihren letzten Minuten qualvoller gelitten, wenn ihr eigener Mann sie umgebracht hätte. Es war anzunehmen, dass Gerd tatsächlich in tiefer Nacht in seine Suite geschlichen war und gesehen hatte, dass von seiner Frau nichts als die Bordkarte übriggeblieben war. Im Grunde hatte Ellen also beiden einen Gefallen erwiesen. Oder hatte Gerd seiner jungen Freundin nur mit angeberischen Mordphantasien imponieren wollen und wäre
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