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Über Bord

Titel: Über Bord
Autoren: Ingrid Noll
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identifizieren muss. Ich habe den Behörden sofort ein paar Fotos gemailt, die vielleicht zur Klärung ausreichen. Zwar ist es auf Grund des Eherings ziemlich sicher, dass es sich um Ortrud handelt, aber bis die Tote freigegeben wird, gibt es noch ein längeres Prozedere, wie eine Obduktion oder eine DNA -Analyse. Dafür brauchen sie wahrscheinlich Vergleichsmaterial, das ich schicken müsste. Ihre Waschsachen habt ihr wohl alle in die Koffer gepackt – die noch nicht hier angekommen sind –, so dass ich weder auf die Zahnbürste noch den Kamm zurückgreifen kann.«
    Er machte eine Pause. Ellen stockte fast der Atem, aber sie nahm sich vor: Cool bleiben! Um sich zu vergewissern, dass man ihm kein Mordmotiv unterstellen konnte, fragte sie: »Hatte sie eine Lebensversicherung?«
    »Nein, die habe nur ich. Nun gut, ich finde sicher noch etwas im Haus, was ich zur DNA -Untersuchung vorlegen könnte. Notfalls müssen unsere Kinder eine Probe abgeben.«
    »Hast du inzwischen mit ihnen sprechen können?«
    »Ja, es war schrecklich. Aber das erzähle ich dir ein andermal. Gute Nacht, schlaf gut!«
    Natürlich konnte Ellen jetzt überhaupt nicht einschlafen, sondern grübelte stundenlang. Demnächst musste sie im Einwohnermeldeamt auch wieder Anfragen nach dem neuen Aufenthaltsort verschollener Personen beantworten. Die meisten Vermissten wurden entweder relativ rasch oder nie gefunden; sie wusste, dass es in Deutschland etwa hunderttausend registrierte Fälle pro Jahr gab, wobei es sich meistens um Kinder und Jugendliche handelte, die von zu Hause ausgerissen waren. Oft kehrten sie reumütig zurück.
    Die Identität des angeschwemmten Körpers würde schnell aufgeklärt werden, davon ging Ellen aus. Gerd hatte keinen Ring getragen, aber seine Frau schon. Ob es eine Inschrift gab? Die häufigsten Gravuren im Ehering waren die Vornamen des Paares sowie das Datum der Trauung. Falls auf dem Ring der Toten Gerd und Ortrud stand, war doch alles klar. Wenn das nicht reichte, konnte man eine Röntgenaufnahme der Zähne vorlegen, dann musste der arme Gerd keine Wasserleiche begutachten. Bestimmt würde es in einiger Zeit eine Trauerfeier geben, an der auch Ellens Geschwister und Gerds Kinder teilnehmen sollten. Spätestens dann würde sie ihren Liebsten wiedersehen. Im Augenblick hatte er andere Probleme.
    Als sie endlich eingeschlummert war, wurde Ellen durch einen grauenhaften Traum abrupt aus dem Schlaf gerissen: Vor ihrem Bett stand Ortrud mit grünen Algenhaaren und leeren Augenhöhlen, hob drohend ihr von der Schiffsschraube abgetrenntes Bein, als wollte sie damit auf ihre Mörderin einprügeln, öffnete ihr Froschmaul und spie eine Fontäne zappelnder Fische und Quallen auf ihr Opfer. Als Ellen wie rasend um sich schlug, verwandelten sich die Fische in Mäuse, sie wurde wach und hielt ein piepsendes Wollbällchen in der Hand. Weil Ellen mit dem Schreien und Penny mit dem Gejaule nicht aufhören konnten, erschien ein Gespenst in langem weißem Gewand und trug den armen Welpen zurück in sein Körbchen.
    »Warum hast du auch deine Tür offen gelassen!«, sagte ihre Mutter vorwurfsvoll. »Du hättest meine Kleine ja erdrücken können!«
    Zerschlagen vom nächtlichen Alptraum füllte Ellen am nächsten Morgen als Erstes die Waschmaschine, sortierte Brigittes Kleider und brachte den leeren Koffer in den Keller. Als Letztes räumte sie die Handtasche aus, warf die Flugtickets in den Papierkorb und zählte das restliche Geld. Sie musste noch vor dem Einkaufen ihre Mutter anpumpen, denn es reichte nicht, um Lebensmittel für das heutige Essen zu besorgen. Plötzlich fiel ihr wieder der USB- Stick in die Hände, den sie fast vergessen hatte. Inzwischen war sie gar nicht mehr so interessiert daran, Ortruds Geheimnissen auf die Spur zu kommen. Die Frau war tot, lag irgendwo in einer französischen Kühlkammer und wartete darauf, nach Deutschland verschickt zu werden. Ihr großer Wunsch, auf dem Meeresboden zu ruhen, war nicht in Erfüllung gegangen, aber es war immerhin möglich, dass Gerd die Urne irgendwann in der Tiefsee versenken würde.
    Nach den Schlemmereien der letzten Wochen meinte sie, um mindestens eine gefühlte Kleidergröße zugenommen zu haben, und wollte auf das Frühstück verzichten. Aber ihre Mutter brüllte durchs ganze Haus: »Kaffee fertig!«
    Auch Amalia gab ihnen im Bademantel die Ehre und sagte, dass sie bald von Uwe zu einem gemeinsamen Hundespaziergang abgeholt werde und eine längere Wanderung unternehmen
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