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Über Bord

Titel: Über Bord
Autoren: Ingrid Noll
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hat sich Gerd eigentlich noch mal gemeldet?«, fragte Amalia und griff nach ihrer Handtasche.
    »Nur ganz kurz. Ich habe dir ja schon gesagt, dass man eine Wasserleiche gefunden hat«, sagte Ellen und gab Gas. Musste Amalia ausgerechnet jetzt wieder damit anfangen, wo sie sich doch ganz auf ihre Arbeit konzentrieren wollte. Insgeheim malte sich Ellen unentwegt aus, wie ihre Romanze weitergehen könnte. Sollte sie zu Gerd nach Frankfurt ziehen und ihre Mutter und Amalia im Odenwald zurücklassen? Oder würde Gerd bei ihr im Nonnenhaus leben wollen – das ja schließlich das Haus seiner Vorfahren war – und vielleicht sogar für eine umfassende Renovierung sorgen? Wahrscheinlich nicht, denn er musste mindestens noch zehn Jahre lang seinen Beruf ausüben. Sollten sie sich jedes Wochenende treffen und ihre Ferien gemeinsam verbringen? Immer noch besser als nichts, fand Ellen, die am Ziel angekommen war und jetzt die ganze Abteilung mit Handschlag begrüßen musste. Es war viel Arbeit liegengeblieben, weil sie ihren Urlaub so kurzfristig angemeldet und nichts im Voraus geregelt hatte. Aber immerhin war die sommerliche Reisesaison zu Ende, und sie brauchte nicht mehr so viele Pässe auszustellen.
    In der Mittagspause beantwortete sie die neugierigen Fragen ihrer Kolleginnen, aber wie schon bei ihrer Mutter beschränkte sie sich auf die Schattenseite einer Seereise. Und als man gar erfuhr, dass sie zu Hause von einem jungen Hund begrüßt wurde, stand nur noch die allgemeine Schadenfreude im Vordergrund. Amalia war nicht ganz so diplomatisch, als ihre Chefin sie befragte, warum sie noch knuspriger und frischer aussähe als sonst.
    »Meine Mutter hat bei einem Preisausschreiben eine Reise für zwei Personen gewonnen«, sagte Amalia. »Absolut cool, so eine Kreuzfahrt auf einem Luxusliner.«
    Die erste Woche nach den Ferien verging sehr rasch. Am Freitagabend kündigte Ellen ihrem Bruder den morgigen Besuch an. »Ganz kurz, nur auf einen Kaffee«, sagte sie. Matthias meinte, sie solle die Mutter mitbringen und den ganzen Tag bleiben.
    »Ach, ich habe hier noch so viel zu erledigen. Für eine Auszeit muss man hinterher immer büßen«, sagte Ellen. »Ein andermal!«
    Am Samstagvormittag fuhr Ellen mit einem Koffer voller Kleider nach Frankfurt und wurde von Bruder und Schwägerin freundlich empfangen. Auch ihnen sollte sie von der Reise erzählen und tat es in diesem Fall ganz gern, denn Matthias und Brigitte gönnten ihr den Urlaub.
    »Schade, dass alles so tragisch enden musste«, sagte Matthias. »Ich habe gestern mit Gerd telefoniert, das Ergebnis der Obduktion liegt vor, die Tote kann jetzt überführt werden.«
    »Und was ist dabei herausgekommen?«, fragte Ellen.
    »Es besteht kein Zweifel, dass es sich um Ortrud handelt. Und man hat – wie ja zu erwarten war – keine Anhaltspunkte für fremde Gewalteinwirkung gefunden«, sagte Matthias.
    Brigitte stand das Wasser in den Augen. »Der arme Gerd«, sagte sie mitfühlend. »Auf diese Reise hatten sich die beiden so gefreut, es ist einfach nicht zu fassen.«
    »Ich werde auf dem Rückweg noch auf einen Sprung bei ihm vorbeischauen«, sagte Ellen. »Vielleicht können wir ja in irgendeiner Form helfen.«
    »Weiß er, dass du kommen willst?«, fragte Matthias. »Bevor du völlig für die Katz durchs Westend kurvst, werde ich lieber mal testen, ob er auch zu Hause ist.« Und schon ging er ans Telefon. Der Plan, ihren Lover zu überrumpeln, war damit geplatzt. Sie war sehr neugierig auf sein Haus und ließ sich von Matthias genau erklären, wo man am besten parken könnte. Den USB -Stick hatte sie nicht mitgenommen und wollte ihn auch möglichst nicht erwähnen.
    Sie konnte den Wagen nicht direkt am Ziel abstellen und wanderte langsam und aufmerksam durch die Apfelstraße. Genau wie es Matthias bei seinem ersten Besuch gemacht hatte, blieb sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen und betrachtete das Haus hinter dem großen Kastanienbaum. Ihr Bruder hatte ihr vorgeschwärmt, wie einmalig schön Ortrud ihr Heim eingerichtet hätte. Im obersten Stockwerk wohnte Gerd, im Parterre lag das Architekturbüro, so viel wusste sie immerhin. Da heute sicherlich niemand dort arbeitete, war sie etwas verwundert, als im Erdgeschoss ein junges Gesicht hinter der Fensterscheibe auftauchte und gleich wieder verschwand. Eine Putzfrau?
    Als sie geklingelt hatte, schnarrte kein Summer, sondern Gerd stand in Sekundenschnelle an der Haustür. Er wirkte ein wenig konfus, als er sie
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