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Codex Mosel

Titel: Codex Mosel
Autoren: Mischa Martini
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Montag
    In dem Moment, als Bernard den Ton lauter stellte, wusste er, dass er damit das Leben des Gärtners da draußen in höchste Gefahr brachte.
    Die Verbretterung des ehemaligen Kutscherhauses war alles andere als dicht. Das hatten die unangenehmen Nächte bewiesen, in denen der Wind die Kälte durch die Ritzen bis in Bernards arthritische Knochen getrieben hatte. Obendrein wehte durch die offene Luke im Boden unablässig Zugluft herauf.
    Neben dem Abendgesang der Vögel vernahm Bernard das durch die hohen Mauern gedämpfte Brausen des Stadtverkehrs. Jeder Zug der Astsäge und jeder Schnitt der Heckenschere aus dem Garten der Kurie klang hier oben ganz nah. Ebenso konnten auch umgekehrt alle Geräusche von hier hinaus zu dem muskulösen Gärtner mit dem Dreitagebart dringen, der längst Feierabend haben sollte.
    Aber es half nichts, die Kopfhörer gaben keinen Ton mehr von sich. Bernard zog den kleinen Stecker heraus und legte ein Ohr auf den staubigen Lautsprecher, um das Telefonat aus dem zwanzig Meter entfernten Kurienhaus mit den großen Fensterläden zu belauschen.
    »… brauchen die Daten umgehend, sofort, auf der Stelle, der Katalog muss in drei Tagen …« Der Tonfall des Domkapitulars war aufs Äußerste fordernd.
    Eine fremde Stimme unterbrach ihn: »Ich habe in der Schweiz angerufen. Die CD ist in der Post.«
    »Was soll das heißen?«
    »Die haben die CD gestern losgeschickt.«
    »Und es gibt keine Kopie?«
    »Haben Sie denn keine?«
    »Würde ich Sie dann danach fragen?« Der Domkapitular schrie.
    Bernard drehte den Ton zurück. Vom Garten her war nichts zu hören. Notgedrungen wandte er sich von dem Gerät ab. Er brauchte eine Weile, bis er durch die Ritzen der spitzen Giebelwand den Gärtner entdeckte, der in einem von der untergehenden Sonne beschienenen Dreieck auf der Rasenfläche stand und sich über dem offenen Tabaksbeutel eine Zigarette drehte.
    Noch vor ein paar Monaten hätte Bernard in diesem Moment abgebrochen. Aber der Druck war so enorm gewachsen, dass ihm keine Wahl blieb.
    »Können Sie die drei Bilder neu aufnehmen?«, tönte die Stimme des Fremden aus dem Gerät.
    »Wie soll ich das denn machen? Die liegen fix und fertig in den Vitrinen der Domschatzkammer, hinter Panzerglas und alarmgesichert. Da müsste ich zuerst einmal den gesamten Dom räumen lassen. Der Bischof wäre begeistert.«
    Ein paar Sekunden Stille folgten. Bernard dachte, nun habe auch der Lautsprecher den Geist aufgegeben.
    »Und in der Nacht? Da ist der Dom doch sicher geschlossen?«
    Wieder blieb es einige Sekunden lang still.
    »Können Sie mir einen Fotografen schicken?«, fragte der Domkapitular.
    »Wann soll er da sein?«
    »Da muss ich noch einiges vorher abklären, mit der Polizei und so weiter. Ich denke mal, etwa um Mitternacht!«
    »Heute? Von München aus? Wie stellen Sie sich das denn vor?«, entrüstete sich die fremde Stimme.
    »Ach, lecken Sie mich doch!« Es knackte im Lautsprecher.
    Bernard blieb keine Zeit, sich über die letzte Bemerkung des verärgerten Domkapitulars zu wundern. Unter ihm wurde die Tür des Schuppens aufgedrückt. Er griff vorsichtig nach einem dicken Holzknüppel.
    Unten wurde scheppernd das Werkzeug abgestellt. Dann war es ruhig.
    Wolken schoben sich vor die Sonne. Der Dachboden des Kutscherhauses wurde in graues Dämmerlicht getaucht.
    Als erstes nahm Bernard, der neben der offenen Luke am Boden kauerte, den Zigarettenrauch wahr. Dann erschien ein dunkler Haarschopf neben der Leiter. Noch während der Gärtner Schulter und Kopf in Bernards Richtung drehte, traf ihn der mit großer Wucht geschwungene dicke Holzstiel in Höhe des Ohrs und verursachte dort ein ekelhaft knackendes Geräusch.
    Wie eine an den Schnüren gekappte Marionette sackte der Mann zusammen. Kaum war er aus Bernards Sichtfeld verschwunden, prallte der Körper unten auf. Bernard behielt den Knüppel in der Hand, als er die Leiter hinunterstieg. Von der untersten Sprosse hievte er seinen rechten Fuß über den schlaffen Körper des Gärtners. Ein Unterschenkel mit einem halbhohen Schnürschuh stand in einer unnatürlichen Haltung vom Körper ab. Die dunklen Haare klebten nass am Ohr. Bernard konnte nicht erkennen, ob das Blut aus dem Gehörgang oder von äußeren Verletzungen am Ohr und der Kopfhaut stammte. Er beugte sich nach vorn und tastete nach der Halsschlagader. Die Haut war warm und feucht. Er fand keinen Puls.
    *
    Das Pflaster der Predigerstraße glänzte im Licht der hoch oben von der Mauer
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