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Über Bord

Titel: Über Bord
Autoren: Ingrid Noll
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flüchtig umarmte.
    »Arbeitest du auch am Wochenende?«, fragte Ellen, während sie gemeinsam die vielen Treppen hinaufstiegen.
    »Nein, wieso sollte ich?«
    »Weil du nicht von oben heruntergekommen bist«, sagte sie und fasste vertraulich nach seiner Hand.
    »Ach so, ich war zufällig gerade im Büro und sah dich auf der Straße«, antwortete er.
    Ellen fragte nach der Frau hinter der Scheibe und erfuhr, dass es eine Studentin sei, die ein Praktikum bei Gerd und seinen Kollegen absolvierte.
    »Sie hatte gestern ihr Handy hier vergessen, ich habe es ihr gerade wieder übergeben«, erklärte er.
    »Wie heißt denn die junge Dame?«, fragte Ellen.
    »Mein Gott, du willst aber auch alles ganz genau wissen! Sie heißt Fabiola Schäfer. Zufrieden?«
    Endlich hatten sie die vielen Treppen bewältigt, die Wohnungstür stand offen, und Ellen hatte Gelegenheit zu einer kurzen Besichtigung. Gerd wollte einen Espresso zubereiten und bediente eine schicke rote Maschine, während sie die zahlreichen Bilder betrachtete.
    Schließlich saßen sie sich im Wintergarten gegenüber und wussten nicht genau, wo sie anfangen sollten.
    »Sind Ortruds Koffer inzwischen angekommen, und kann ich dir noch in irgendeiner anderen Form unter die Arme greifen?«, sagte Ellen etwas steif. Gerd hob lachend die Arme, schüttelte aber den Kopf. Es sei für alles gesorgt: Das Gepäck sei gestern angekommen. Die Identität der Toten sei geklärt, und die Überführung erfolge demnächst; außerdem müsse er für die Einäscherung sorgen, sowohl Anzeigen in zwei Zeitungen aufgeben als auch welche verschicken. Vor der Trauerfeier grause er sich ein wenig.
    »Wann kommen deine Kinder?«, fragte Ellen. Er zuckte mit den Achseln und strich nervös ein paar Krümel von der Tischdecke.
    »Liebes, es tut mir leid, dass ich heute ein schlechter Gastgeber bin. Aber mir brummt der Kopf, und ich will meinem empfindlichen Herzen nicht zu viel zumuten. Ein andermal haben wir mehr Zeit füreinander.«
    Ellen fühlte sich rausgeschmissen. Sie bat darum, vor ihrer Heimfahrt die Toilette benutzen zu dürfen und sah sich im Bad gründlich um. Der Inhalt von Ortruds Reisenecessaire war in eine Plastikschüssel entleert worden, es sah so aus, als würde die Hausfrau jeden Moment aus der Küche kommen und ihre Tuben und Dosen wieder an ihren Platz räumen. Als Ellen schließlich den Deckel des kleinen Mülleimers lupfte, lag eine gebrauchte Damenbinde darin und sonst nichts.
    Kurz darauf saß sie wieder im Wagen und quälte sich durch viele Umleitungen in Richtung Süden. Sie fuhr nur selten in eine größere Stadt und war etwas unsicher, fast hätte sie aus Unachtsamkeit eine alte Frau angefahren. Aber es war nicht nur der Frankfurter Verkehr, der ihr zu schaffen machte, sondern auch die Begegnung mit Gerd. Nichts war so gelaufen, wie sie es sich gewünscht hatte. Er hatte sich überhaupt nicht über ihren Besuch gefreut, ja sie hatte sogar den Eindruck, unwillkommen zu sein. Hatte diese Praktikantin das Haus überhaupt verlassen, oder war sie unten im Büro geblieben? Lauerte sie nur darauf, dass die Luft rein war? Sie hieß Fabiola, ein Name der ebenso mit F begann wie Franziska. Mein Gott, ich bin ja so was von doof, dachte Ellen plötzlich, Mutter hatte gleich den richtigen Riecher.

27

    Etwa auf der Hälfte des Heimwegs spürte Ellen einen schmerzhaften Stich in der Brust. Das erste Zeichen eines Herzinfarkts? Das letzte EKG vor zwei Jahren hatte keinerlei Auffälligkeiten gezeigt, aber sagte das über zukünftige Erkrankungen etwas aus? Die Diagnose stellte sie jetzt allerdings selbst: Verschmähte Liebe tat weh – nicht nur seelisch, sondern auch körperlich.
    Ellen war in diesem Augenblick so unglücklich, dass sie sich ebenso wie Ortrud wünschte, in dunklen Wassern, auf dem tiefsten Meeresboden zu landen. Leise murmelte sie eine Zeile aus einem Hölderlingedicht: Willkommen dann, o Stille der Schattenwelt! Ständig musste sie die Tränen abwischen, sah aber ein, dass sie das in hohem Maße gefährdete, und riss sich zusammen. Sie stand jetzt nicht als Tragödin auf einer Theaterbühne, sondern raste über eine vielbefahrene Autobahn. Während des letzten Drittels ihrer Fahrt ließ der Schmerz plötzlich nach, sie empfand sogar ein verstörendes Hochgefühl, weil sie überhaupt noch am Leben war und schließlich unbeschadet zu Hause ankam.
    Im Vorgarten hockte ihre Mutter wie ein Laubfrosch vor dem Hündchen, das eifrig herumschnüffelte. Der junge Hund freute
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