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Der Liebe eine Stimme geben

Der Liebe eine Stimme geben

Titel: Der Liebe eine Stimme geben
Autoren: Lisa Genova
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verdreht. Die Zehen eingerollt. Jeder Muskel seines kleinen, hemdlosen, nur mit einer Pyjamahose bekleideten Körpers drückt ihn zusammen, schüttelt ihn, verzerrt ihn.
    Sie hatte ihn schon einmal so gesehen, als er vier war. Kurz bevor es geschah, hatte er eine seltsame, ausdruckslose Miene. Er starrte ins Nichts, mehr noch als sonst, und er sah irgendwie ausgelaugt aus. Dann stürzte er zu Boden, bewusstlos, sein ganzer Körper völlig verkrampft und zitternd. Das hielt etwa eine Minute an, eine absolut entsetzliche Minute, die ihr wie eine Stunde vorkam. Dann ließ der Anfall nach, und etwa eine Minute später kam Anthony wieder zu sich, erschöpft, aber unversehrt.
    Sie und David waren beide da, als es passierte. David wählte den Notruf, und sie fuhr im Krankenwagen mit Anthony mit, während David ihnen in seinem Wagen zur Kinderklinik folgte. Anthony hatte ein EEG und ein paar andere Untersuchungen, an die sie sich nicht mehr erinnert. Der Neurologe sagte, Anthony hätte einen Krampfanfall gehabt. Er sagte, Krampfanfälle seien im Zusammenhang mit Autismus nichts Ungewöhnliches, etwa ein Drittel der Kinder mit Autismus hätten auch Epilepsie. Er sagte, die Anfälle seien im Allgemeinen mit Medikamenten gut in den Griff zu bekommen, und Anthony würde vielleicht nie wieder einen erleiden.
    Danach beobachtete sie ihn lange Zeit mit Argusaugen, aber Anthony hatte keinen weiteren Anfall mehr. Sie entspannte sich und sagte sich, dass das mit den Anfällen für immer vorbei wäre, dass es ein einmaliges Vorkommnis gewesen wäre. Endlich hatten sie Glück.
    Die Erfahrung dieses ersten Anfalls, als Anthony vier war, bereitete sie überhaupt nicht auf den Anblick dieses neuen Anfalls vor. Dieser Anfall war anders. Er ging immer weiter. Einer folgte auf den anderen, und jeder neue Anfall packte ihn fester, schüttelte ihn heftiger. Wie wenn jemand Brennholz in einem Feuer nachlegt, wurde das Lodern immer größer, heißer, heller.
    Sie legte ihm ein Handtuch unter den Kopf, nicht ahnend, dass er mit dem Kopf schon viel zu hart auf die Porzellanfliesen des Bodens aufgeschlagen war, und sah in hilflosem Entsetzen zu. Dann ließen die Anfälle nach. Sie hörten auf, und er lag einfach nur da. Seine Augen waren noch immer nach hinten verdreht. Seine Füße waren gespreizt. Seine Lippen waren nicht rosig genug. Seine Lippen waren violett. Violett, das in Blau überging.
    Anthony!
    Als sie die Arme um ihn schlang, spürte sie mit den Fingern seine schlaffen Handgelenke und seinen Nacken. Sie konnte nichts fühlen. Sie legte ein Ohr an seine glitschige, nasse Brust. Sie glaubt, das ist der Moment, in dem sie zu schreien begann.
    Sie wählte den Notruf. Sie kann sich nicht erinnern, was sie gesagt hat. Sie kann sich nicht erinnern, was man ihr gesagt hat, das sie tun soll.
    Sie hielt ihm die Nase zu und begann ihn zu beatmen.
    Atme!
    Sie presste mit den Händen auf seine kleine, nackte Brust, wie sie es als Jugendliche mit einer leblosen Puppe namens Annie gelernt hatte.
    Anthony, atme!
    Dann waren zwei Männer da. Die Rettungssanitäter. Sie übernahmen. Eine Tüte über Anthonys Mund, ein großer Mann, der immer wieder mit seinen großen Handballen auf Anthonys Brust drückte. Sie erinnert sich, gedacht zu haben: Hören Sie auf! Sie tun ihm weh!
    Dann noch zwei Leute. Anthony auf einer Trage. Anthony die Treppe hinunter. Anthony auf einer Krankenbahre. Ein anderer Mann, größer als David, rittlings über Anthony, auf den Knien kauernd, während er immer wieder mit den Händen auf Anthonys Brust drückt. Kräftig. Unablässig. Eine Tüte, die über Anthonys Mund gepresst wird. Das alles, während sie in Bewegung sind. Zwei Männer, die Anthony und den großen Mann auf der Bahre zur Haustür hinaus und zu dem Rettungswagen in der Auffahrt tragen.
    Die Bilder sind surreal und allzu lebendig. Selbst während sie sich jetzt an jeden Augenblick erinnert, diesen Morgen noch einmal erlebt und weint, während sie geht, kommt es ihr noch immer unglaublich vor, als könnte es gar nicht passiert sein. Sie geht schneller.
    Sie saß vorn im Rettungswagen, nach hinten gewandt, versuchte Anthony zu sehen, versuchte zu sehen, was sie mit ihm machten, versuchte ihn zu beschwören, zu atmen, die Augen aufzuschlagen.
    Anthony, sieh mich an.
    Sie kann sich nicht erinnern, David angerufen zu haben, aber sie muss es getan haben. Oder jemand anders hatte es getan, denn er war da, stand neben ihr im Flur der Notaufnahme, als ein kleiner Mann mit
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