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Der Liebe eine Stimme geben

Der Liebe eine Stimme geben

Titel: Der Liebe eine Stimme geben
Autoren: Lisa Genova
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Halbglatze und einer vogelartigen Nase, der sie an ihren Großvater erinnerte, auf sie zukam.
    Es tut mir leid ist das Einzige, woran sie sich vor dem Geräusch ihres eigenen Schreiens noch erinnern kann. Ihr eigenes Schreien ist das Letzte, woran sie sich für den Rest des zehnten Januar mit Klarheit erinnern kann.
    Sie ist auf ihrer dritten Runde durch die Nachbarschaft, umkreist dieselben grauen, leeren Häuser und grauen, kahlen Felder, ohne die Absicht, von ihrer Route abzuweichen oder nach Hause zurückzukehren. Bei jeder Runde hält sie einmal inne, vor Beth Ellis’ Haus.
    Der schwarze Truck und der blaue Minivan stehen beide in der Auffahrt, und es brennt Licht. Beth ist zu Hause. Olivia steht vor dem Haus auf der Straße, will am liebsten klingeln. Sie hat seit jenem Vormittag in ihrem Wohnzimmer nichts mehr von Beth gesehen oder gehört. Aber jedes Mal, wenn sie an ihrem Haus vorbeigeht, redet sie es sich aus. Sie ist nicht in der Verfassung, um mit irgendjemandem vernünftig zu reden.
    Nicht heute.
    Sie geht die Runde noch dreimal und bleibt dann stehen. Sie ist durchfroren und erschöpft. Sie schaut auf ihre Armbanduhr.
    Mein Gott, es ist erst Mittag.
    Noch zwölf Stunden zehnter Januar. Sie kann nicht mehr weiterlaufen. Sie muss nach Hause.
    Vorher jedoch macht sie noch einen kleinen Abstecher zu ihrem Briefkasten. Sie entnimmt ihm ein paar Rechnungen, einen Katalog und einen braunen Umschlag, auf dem nur ihr Vorname steht, ohne Briefmarke. Sie stopft die übrige Post zurück in den Kasten und öffnet, mit ängstlichem und hoffnungsvollem Herzen, den Umschlag.
    In der Hand hält sie einen dünnen Stapel Druckerpapier, an der Ecke links oben zusammengeheftet. Das oberste Blatt ist leer, aber eine rosa Post-it-Notiz klebt in der Mitte der Seite.
    Olivia –
    Für Sie und für mich.
    Danke,
    Beth
    Sie zieht die Haftnotiz von der Seite, und ein einziges Wort kommt zum Vorschein.
    Epilog .

NEUNUNDDREISSIG
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    Heute ist der Buchclub-Sonntagsbrunch bei Jill zu Hause. Eigentlich war Beth an der Reihe, aber Jill hat darauf bestanden, die Gastgeberin zu sein. Beth ist früh dran, ist als Erste gekommen. Jill führt sie ins Esszimmer.
    »Was meinst du?« Jill strahlt, freut sich auf Beths Reaktion.
    Beth lässt den Blick durchs Zimmer schweifen. Blaue Essteller auf blau-weißen Gingham-Platzdeckchen. Ein weißes Lesezeichen in der Mitte jedes Tellers. Ein einzelner großer, glatter, weißer Stein auf jeder zusammengefalteten blauen Leinenserviette. In der Mitte eine große Glasvase mit violetten Tulpen, auf einem runden Metalltablett, das mit kleinen, weißen Steinen bedeckt ist. Hauchdünne Champagnerflöten. Ein Glaskrug mit Orangensaft und eine Kanne Kaffee. Das Essen auf dem Beistelltisch – eine Schale gemischte Beeren, Bagels und Frischkäse, eine Art Eier-Kasserolle, Speck und Toaststreifen.
    »Das ist ja umwerfend«, sagt Beth. »Du bist einfach unglaublich. Vielen Dank, dass du das machst.«
    Jill tut das Kompliment mit einer Handbewegung ab und entschuldigt sich, um sich um irgendetwas zu kümmern, das in der Küche noch vor sich hin köchelt. Beth sucht sich einen Platz und nimmt das selbst gemachte Lesezeichen auf ihrem Teller in die Hand.
    Anleitung für Lesegruppen, gefolgt von zehn Fragen, die Jill sich ausgedacht hat, in einer eleganten Kalligraphieschrift abgefasst. Beth lächelt.
    Letztes Jahr um diese Zeit waren sie ebenfalls alle für den Buchclub hier in Jills Esszimmer versammelt. Letztes Jahr um diese Zeit redeten sie über Jimmys Affäre und ihre Trennung anstatt über das Buch. Sie erinnert sich an diesen Abend, als wäre es ewig her und zugleich erst gestern gewesen. Sie erinnert sich, dass sie ängstlich und gedemütigt war, krank vor Sorge und betrunken von Wodka. Sie dachte, dieser Abend wäre der Anfang vom Ende von allem.
    Wie viel sich in einem Jahr doch ändern kann.
    Die Haustür geht auf.
    »Hallo?«, ruft jemand.
    »Herein!«, ruft Jill aus der Küche.
    Ein paar Sekunden später kommen Courtney und Georgia ins Esszimmer. Sie halten einen winzigen Moment inne, mustern das aufgebaute Festmahl und Beth. Sie sehen aus, als ob sie gleich platzen, wie Kinder beim Anblick der Geschenke unter dem Baum am Weihnachtsmorgen.
    »Beth!«, sagt Georgia. »Ich habe es gestern Abend ausgelesen! Heute Morgen, um genau zu sein – du hast mich bis zwei Uhr wach gehalten. Es war so gut!«
    »Ich habe es schon vor Wochen ausgelesen. Habe es in drei Sitzungen verschlungen. Ich brenne darauf,
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