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Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz
Autoren: Helmut Schmidt
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      Vorrede
    Gegen Ende des Lebens wollte ich einmal aufschreiben, was ich glaube, im Laufe der Jahrzehnte politisch gelernt zu haben. Denn vielleicht könnte doch einer von den Jüngeren daraus einen Nutzen ziehen. Die meisten meiner Weggefährten haben schon endgültig ihre Adresse gewechselt; ihnen habe ich vor zwölf Jahren in dem Band »Weggefährten« meinen Dank abgetragen. In dem hier vorgelegten Buch geht es in erster Linie um persönliche Erfahrungen. Sie werden nicht chronologisch vorgetragen, eine Autobiographie war nicht beabsichtigt. Ebensowenig wollte ich eine systematische, nach Themen geordnete Darstellung versuchen. Viele Einsichten, die ich im Laufe meines Lebens gewonnen habe – auch und gerade in den letzten 25 Jahren »außer Dienst«–, verdanke ich Menschen, die einen bleibenden Eindruck auf mich machten; meine Erinnerungen an sie sind untrennbar verbunden mit den Themen, die uns beschäftigten. Auch bitte ich den Leser zu berücksichtigen, daß mir in der Rückschau nicht alles gleich wichtig war. Weil mir an bestimmten Erkenntnissen mehr liegt als an anderen, unterscheiden sich die einzelnen Kapitel durch unterschiedliche Gewichtung; gelegentliche Überschneidungen waren hier und da unvermeidlich.
    Nach dem Ende des Hitlerschen Weltkriegs begann ich, mich politisch zu engagieren. Berufspolitiker wurde ich zwar mehr durch Zufall, aber nachdem ich es einmal geworden war, bin ich es aus eigenem Willen geblieben. Als ich 1987 nach drei Jahrzehnten als Bundestagsabgeordneter aus dem Parlament wieder ausschied, hatte ich allerdings nicht das Gefühl, aus dem Dienst am öffentlichen Wohl entlassen zu sein. Der Titel dieses Buches enthält deshalb ein Quentchen Selbstironie. Ich habe mich auch nach dem Ausscheiden aus allen öffentlichen Ämtern nicht wirklich »außer Dienst« gefühlt, denn das Bewußtsein eigener Mitverantwortung ist mir geblieben. Der Wechsel vom Politiker zum publizistischen Autor hat daran nichts geändert.
    Schon vor langer Zeit habe ich mir den alten römischen Satz zur Richtschnur gemacht: Salus publica suprema lex . Inzwischen habe ich begriffen, daß die Maxime vom öffentlichen Wohl als dem obersten Gebot für manche Politiker – und ebenso für manche Manager – nicht zu gelten scheint; sie räumen ihrer persönlichen Geltung, ihrer persönlichen Macht oder auch ihrem persönlichen Reichtum offenbar vorrangige Bedeutung ein. Zwar kann man aus Gründen der Vernunft und der Moral zu durchaus verschiedenen Meinungen darüber gelangen, was in einer konkreten Situation im Sinne des Gemeinwohls geboten ist. Aber – und auch das habe ich im Laufe des Lebens gelernt – sowohl die Demokratie im Inneren als auch der Friede im Äußeren verlangen die Bereitschaft zu Kompromiß und Toleranz.
    Die Verantwortung eines Politikers ist nicht abstrakt. Vielmehr ergibt sie sich immer wieder aufs neue sehr konkret und oft bedrückend. In jeder Lage, vor jedwedem Problem, in jedem Streit, immer wieder muß er eine Antwort auf die Frage finden: Was ist hier und jetzt meine Aufgabe und meine Pflicht? Was ist meine Pflicht, wenn zwei oder mehr Interessen miteinander kollidieren? Hat etwa ein persönliches Interesse oder das Interesse meiner Partei Vorrang? Und wenn das Interesse der Nation Vorrang hat, was liegt dann konkret im Interesse der Nation?
    Fragestellungen dieser Art haben im Westen unseres Landes erbitterte Streitigkeiten ausgelöst – vom Schuman-Plan 1950 und dem Beginn der europäischen Integration über die Hallstein-Doktrin, den NATO-Beitritt, die Notstandsgesetzgebung, die Ostpolitik, die Helsinki-Schlußakte und den NATO-Doppelbeschluß bis hin zur Vereinigung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten. In Ostdeutschland war es sehr viel schwieriger, sich ein eigenes Urteil zu bilden. In Westdeutschland war man sich seit den späten fünfziger Jahren einig über die Zugehörigkeit zur Europäischen Gemeinschaft. Gleichwohl konnten sich viele 1989 nicht vorstellen, daß die Regierungen Frankreichs, Englands, Italiens oder Hollands und Dänemarks die Vereinigung der beiden deutschen Staaten mit tiefer Skepsis betrachteten und sie ablehnten. Es waren die Vereinigten Staaten von Amerika, die aus strategischem Interesse gegenüber der damals noch existierenden Supermacht Sowjetunion und gegenüber dem Kommunismus schließlich die Zustimmung unserer Nachbarn zur deutschen Einheit herbeigeführt haben.
    Damals wußten wir in Deutschland sehr wenig von der Geschichte und
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