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Der Liebe eine Stimme geben

Der Liebe eine Stimme geben

Titel: Der Liebe eine Stimme geben
Autoren: Lisa Genova
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ihre typische Wochenendroutine. Nach dem Frühstück spielte Anthony mit Wasser im Waschbecken, während Olivia das Geschirr abräumte, eine Tasse Kaffee trank und ein bisschen im Globe las. Sie hatte schon vor langer Zeit aufgehört, ihn beim Spielen im Bad zu beaufsichtigen. Er wusste, dass er die Wanne nicht benutzen durfte, ohne dass sie dabei war. Badezeit war abends, und er verstand diese Regel. Er mochte Regeln.
    Und er ging endlich selbst aufs Töpfchen. Normalerweise machte er vor dem Frühstück Pipi, und normalerweise musste er bis nach dem Mittagessen nicht noch einmal gehen. Daher machte sie sich, während er morgens im Bad spielte, keine Sorgen darum, dass er die Toilette oder sein Kacka anfasste oder um all die anderen unappetitlichen Abenteuer, die mit Kacka oft einhergingen.
    So hielten sie es jedes Wochenende. Sie trank ihren Kaffee und las die Zeitung, und Anthony spielte am Waschbecken. Er liebte es, sich das kalte Wasser über die Hände laufen zu lassen. Er liebte es, einen großen Plastikbecher zu füllen und das Wasser immer und immer wieder in den Ausguss zu kippen. Und er liebte es, den Stöpsel einzustöpseln und das Waschbecken volllaufen zu lassen. Und dann schaufelte er etwas Wasser in seinen Becher und goss es wieder hinein, Wasser in Wasser.
    Und er liebte Shampoo. Sie kaufte jede Menge Shampoo-Reisefläschchen für ihn und stellte sicher, dass ihre teuren Flaschen versteckt und außer Reichweite blieben. Als Erstes zog er immer sein Hemd aus. Er leerte gern das ganze Fläschchen ins Waschbecken und machte Schaum. Und er rieb sich gern die Arme und den Körper mit dem Shampoo ein. Er mochte das Gefühl, wenn seine Haut nass und glitschig von flüssiger Seife war.
    Wenn sie mit ihrer Tasse Kaffee fertig war, ging sie immer hoch in sein Zimmer, schnappte sich seine Kleider, ging ins Bad, reichte Anthony ein trockenes Handtuch und sagte ihm, dass es Zeit zum Anziehen war. Dann gingen sie bis zur untersten Stufe, und sie half ihm dort in seine Kleider.
    Am zehnten Januar vor zwei Jahren trank sie ihre morgendliche Tasse Kaffee und las die Zeitung, während Anthony im Bad mit Wasser spielte und David sich in der Arbeit vor ihr verkroch. Wenn sie ihren Kaffee schneller getrunken hätte. Wenn David länger zu Hause geblieben wäre. Wenn sie nicht so in die Zeitung vertieft gewesen wäre.
    Sie hat den Geschmack des Kaffees von heute Morgen noch immer im Mund, einen Geschmack, den sie liebt, aber auf einmal ist er zu bitter, faulig, und ihr wird schlecht davon. Sie stürzt ins Bad und übergibt sich ins Waschbecken. Sie putzt sich die Zähne, spült sich den Mund mit Mundspülung aus, dann setzt sie sich auf den kalten Badezimmerboden.
    Die Tasse Kaffee vor zwei Jahren hat sie in aller Ruhe getrunken. Sie las das Feuilleton, als irgendetwas an der Stille, die von oben herunterströmte, ihr unter die Haut kroch und aufschrie. Sie legte die Zeitung hin und lauschte. Sie hörte nichts Ungewöhnliches, nur das Geräusch von Wasser, das durch die Rohre lief.
    Es ist alles in Ordnung mit ihm , dachte sie, und dann, kaum dass sie es zu Ende gedacht hatte, hörte sie einen Rums.
    RUMS . Zu groß, zu schwer, zu laut, um ein Shampoo-Reisefläschchen oder ein Plastikbecher mit Wasser zu sein. Zwischen dem Küchenstuhl und dem Badezimmer kann sie sich an nichts mehr erinnern. Sie erinnert sich an RUMS , und im nächsten Augenblick lag Anthony da, auf dem Fliesenboden, und hatte einen Anfall.
    Jetzt löst sie sich von dem Badezimmerboden. Sie schlüpft in ihren Wintermantel, Hut und Stiefel und verlässt das Haus für einen Spaziergang, um vor der Erinnerung an das, was als Nächstes geschah, zu fliehen. Vielleicht, wenn sie in Bewegung bleibt, vielleicht, wenn sie nicht an einem festen Platz sitzen bleibt, an dem sie leicht gefunden werden kann, vielleicht werden die Erinnerungen an den Rest dieses Morgens dann nicht über sie hereinbrechen.
    Anfangs klappt es. Sie konzentriert sich aufs Gehen, darauf, sich gegen die schneidende Kälte zu wappnen, sich gegen den beißenden Wind zu stemmen. Aber bald ist sie buchstäblich taub gegen das Wetter, und alles, woran sie vorübergeht, ist grau – die Häuser, die Straßen, die Bäume, der Himmel. Das Gehen wird ein langer, vertrauter, grauer, betäubter verschwommener Klecks, nicht genug, um ihren Geist und ihren Körper abzulenken. Und die Erinnerungen beginnen auf sie einzustürmen.
    Anthony liegt auf dem Badezimmerboden. Anthony hat die Augen nach hinten
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