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Stromschnellen: Roman (German Edition)

Stromschnellen: Roman (German Edition)

Titel: Stromschnellen: Roman (German Edition)
Autoren: Bonnie Jo Campbell
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1. KAPITEL
    Der Stark River floss durch die Flussschleife bei Murrayville wie das Blut durch Margo Cranes Herz. Sie ruderte stromaufwärts, um nach Braut-, Riesentafelenten und Fischadlern Ausschau zu halten und im Farn nach einem Tigersalamander zu suchen. Sie ließ sich flussabwärts treiben, um Zierschildkröten zu beobachten, die sich auf umgestürzten Baumstämmen sonnten, und die Fischreiher im Reiherhorst am Friedhof von Murrayville zu zählen. Sie vertäute ihr Boot und folgte seichten Seitenarmen, um Flusskrebse, Brunnenkresse und winzige Wilderdbeeren zu sammeln. Ihre abgehärteten Füße trotzten den scharfkantigen Steinen und Glasscherben. Beim Schwimmen schluckte Margo kleine lebende Fische, und dann spürte sie, wie der Stark River sich in ihr regte.
    Sie watete durch verschlungene Baumwurzeln, griff nach glitschigen Wasserschlangen und ließ den Fluss die Wunden der ungiftigen Bisse reinigen. Manchmal überlistete sie eine Schnappschildkröte und brachte sie dazu, sich in einen Ast zu verbeißen, damit sie sie nach Hause zu Grandpa Murray tragen konnte. Er kochte dann aus dem Fleisch eine Suppe und machte den Kindern weis, dass Schnappschildkröten wie Dinosaurier schmecken. Margo war die Einzige, die der Alte mitnahm, wenn er zum Angeln oder seine Fallen kontrollieren ging, weil sie stundenlang schweigend im Bug seines kleinen Teakholzbootes The River Rose sitzen konnte. Sie lernte, dass sie besser still war und Augen und Ohren offenhielt, anstatt etwas zu sagen oder zu rufen. Der alte Mann nannte sie »Elfe« oder »Flussnymphe«. Ihre Cousins riefen sie »Nympho«, aber nie, wenn der Alte in Hörweite war.
    Margo, die eigentlich Margaret Louise hieß, und ihre Cousins kannten sich mit dem trüben Wasser und der starken Strömung aus, sie kannten den Sand und den Schlamm zwischen ihren Zehen, schöpften ihn in leere Hüttenkäse- oder Plastikeisbecher, ließen ihn durch die Finger rieseln und bauten damit einsackende Stalagmiten und Tropfburgen. Sie untergruben das Flussufer, buddelten sich durch Erdreich und Wurzelwerk und schufen einsturzgefährdete Höhlen und Tunnel. Stand ein Kind zu lange an einer weichen Stelle und versank bis zu den Knien, brauchte es nur zu schreien, schon zog es jemand heraus. Sie verbrachten die Sommer mehr oder weniger nackt, sammelten Regenwürmer im moosigen Wald und im Wasser Froscheier im Glibber unter dem Totholz. Sie bauten Flöße aus Schwemmholz und Ballengarn. Sie lernten, an der Wasseroberfläche Hinweise auf ein Unglück darunter zu erkennen. Einmal – Margo war damals acht und ihr Lieblingscousin Junior neun – retteten sie einen Onkel, der betrunken in den Fluss gestürzt war.
    Sie alle angelten zwischen den abgestorbenen Bäumen am Flussrand nach Sonnen- und Felsenbarschen, mieden aber den Abschnitt gleich unterhalb der Metallfabrik der Murrays, weil dort ein Abflussrohr ein Gemisch aus Abwasser, Maschinenöl und Lösungsmitteln in den Fluss leitete – ein paar der Fische dort unten hatten seltsame Tumore, fleischige Bläschen an den Lippen und fransige Kiemen. An windigen Tagen waberte der lehmfarbene Qualm aus der Fabrik über den Fluss bis zu ihren Häusern und drang selbst bei geschlossenen Fenstern durch die Ritzen zwischen den Bodendielen und in den Türstöcken ins Innere.
    Die Murrays waren eine starrköpfige Sippe, und Bernard Crane war nicht weniger starrköpfig, war er doch als unehelicher Sohn von Dorothy Crane und dem alten Murray in einer untreuen Phase gezeugt worden, was ihm dessen Ehefrau, die trotz (oder gerade wegen) ihres nachsichtigen Wesens jung verstorben war, jedoch beizeiten verziehen hatte. Der Alte hatte Dorothy Crane bekniet, ihrem gemeinsamen Kind seinen Nachnamen zu geben, doch sie ließ in die Geburtsurkunde Vater unbekannt eintragen. Manche sagten, Dorothy habe indianisches Blut, und deshalb sei Bernard so klein geraten; andere behaupteten, sie habe ihrem Kind die Muttermilch vorenthalten, weil der Alte sein angetrautes Weib nicht habe verlassen wollen; und wiederum andere, darunter auch Cal Murray selbst, bestritten, dass Bernard in irgendeiner Weise mit Cal verbrüdert war. Jahre später aber, als Bernard Crane, den alle einfach nur »Crane« nannten, und seine Frau Luanne ein bildhübsches Töchterchen mit grünen Augen zur Welt brachten, schlug die Versöhnung auf magische Weise eine Brücke über den Fluss, und sämtliche Murrays erhoben Anspruch auf Margo. Eine Weile genoss die Kindsmutter sogar das Wohlwollen der
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