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Stromschnellen: Roman (German Edition)

Stromschnellen: Roman (German Edition)

Titel: Stromschnellen: Roman (German Edition)
Autoren: Bonnie Jo Campbell
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Astgabel eines Baums und hielt kurz inne, um dem Gurren einer Trauertaube auf dem gefrorenen Boden zu lauschen. Mit einem ebenso traurigen Gurren riet sie der Taube wegzufliegen. Die dritte Dose stellte sie unter ein Geflecht aus dornigen Himbeerranken. So machte sie weiter, bis sie alle zwölf Dosen im Wald verteilt hatte. In einer Hand hielt sie die Schrotflinte ihres Vaters; in ihrer Tasche steckte ein Dutzend Patronen. Margo stellte sich rund zehn Schritt von der ersten Dose entfernt hin, schob vier Schrotpatronen ins Magazin, lud durch, drückte ab und pulverisierte die Dose. Den Rückstoß steckte sie ohne zu zucken weg. Sie zog den Ladehebel nach hinten, presste den Kolben noch fester gegen die Schulter, feuerte erneut und sah, wie die zweite Dose explodierte. Mannshoch spritzte das schäumende Bier heraus. Eine nach der anderen zerschoss sie die Dosen im Morgengrauen und setzte das Gewehr nur ab, um nachzuladen. Tief atmete sie den süßlichen Geruch des Schießpulvers ein. Jeder einzelne Schuss hallte durch den Wald und übers Wasser.
    Im Schlafzimmer ihres Vaters ging das Licht an. Sie würde ihn ins Krankenhaus bringen. Während sie darauf wartete, dass er herauskam, lauschte sie dem Wasser, das neben ihr den Stark River hinunterrauschte, geradewegs zum Wehr bei Confluence, hinter dem der Kalamazoo River und, ein Stück weiter, der Michigansee lagen. Ihre Ohren dröhnten von den Schüssen. Ihre Schulter pochte.

2. KAPITEL
    Ein Jahr später, am Sonntag vor Thanksgiving, kniete Margo kurz vor Tagesanbruch ein Stück flussaufwärts von ihrem Haus zwischen zwei Zedern und beobachtete einen Sechsender, der im gefrorenen Laub nach Eicheln stöberte. Margo hatte alle Zeit der Welt, das Tier mit den schwarzen Hufen und schlanken Läufen, der dunklen Brust, so breit wie die eines Mannes, der schweren Krone, dem weißen Bart und dem arroganten Blick zu studieren. Als es eine Hirschkuh witterte, hob es den Kopf und blähte die Nüstern. Margo legte das Gewehr an und presste die Wange gegen den Schaft. Der Fluss schien ihren Arm und ihr Auge zu führen, als sie auf Herz und Lungen zielte und abdrückte – peng! Erst als sie aufstand, bemerkte sie, dass ihr Knie nass war und sich auf ihrer Jeans Eis gebildet hatte.
    Im Zimmer ihres Vaters flammte Licht auf. Bis er sich Kleider und Stiefel angezogen hatte und kopfschüttelnd und brummend aus dem Haus trat, hatte sie den Hirsch längst auf einem Schlitten zum Schaukelgestell hinter dem Haus gezogen. Es war ihr dritter Abschuss in fünf Tagen.
    »Das reicht jetzt. Schluss mit der Jägerei, Kleine!«, befahl Crane. Er half ihr, die Läufe abzusägen und das Tier mit einer Kette um den Hals hochzuziehen. Dann setzte er sich am Flussufer auf den Stumpf einer Eiche und wetzte sein Fleischermesser an einem Schleifstein. Das Wasser unter ihm war schwarz und kalt. »Hast du gehört, Margo? Schluss mit Jagen, okay? Sag was. Du bist nicht stumm.«
    »Ich hab’s gehört«, brachte sie mühsam hervor.
    Im Sommer und Herbst hatte Margo bei Mr   Peake von der Landjugend Jagd- und Schießunterricht genommen, und sie war ganz erleichtert gewesen, als er meinte, ihr ruhiges Naturell wäre für sie beim Schießen von Vorteil.
    »Ich besorge dir alle Ziele, die du haben willst, aber Hirsche sind ab sofort tabu.«
    Margo nickte, doch dann entdeckte sie etwas im gräulichen Dunst, einen orangefarbenen Zettel, der am Stamm der Buche neben der Zufahrt hing. Zwischen all den Ahornbäumen, Eichen und Ferkelnussbäumen gab es nämlich eine einzige Buche mit glatter Rinde, in die Luanne früher mit einem Federmesser Margos Größe und Alter eingeritzt hatte. So leise wie möglich schlich Margo um die Hausecke.
    »Die Gefriertruhe ist voll, Margo. Wir haben mehr als genug Fleisch!« Mit zusammengekniffenen Augen blickte Crane misstrauisch flussaufwärts zum rosafarbenen Horizont.
    Obwohl Margo nur leicht auftrat, knirschten die gefrorenen Blätter unter ihren Füßen.
    »Auch wenn du erst sechzehn bist, gilt für dich das Gesetz genauso«, sagte Crane. Er prüfte die Klingenschärfe an der Kante eines Streichholzbriefchens, schob es zurück in die Tasche und zog die Klinge noch ein paarmal über den Stein. Obwohl er eher klein war, hatte er eine kräftige Stimme, die weit trug. »Das Jagdabzeichen, das man dir an die Jacke geheftet hat, berechtigt dich, einen Hirsch zu schießen, Margo, nicht drei.«
    Am Donnerstag, dem Beginn der Jagdsaison, hatten sie Margos ersten Hirsch zerlegt und abends
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