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Stromschnellen: Roman (German Edition)

Stromschnellen: Roman (German Edition)

Titel: Stromschnellen: Roman (German Edition)
Autoren: Bonnie Jo Campbell
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anderen Frauen. Meist aber nannten sie Luanne einen »Freigeist«, und das war nicht als Kompliment gemeint.
    Wenn das Wetter es zuließ, schwammen Margo und ihre Cousins den ganzen Tag. Selbst wenn die Dürre den Fluss so seicht machte, dass man hindurchwaten konnte, schwammen sie zum großen Farmhaus der Murrays am Nordufer, wo Tante Joanna Wäsche aufhängte oder Brot backte und Onkel Cal sie manchmal mit Flinten Tontauben schießen oder mit Kleinkalibergewehren auf Blechziele ballern ließ. Von dort schwammen sie dann quer über den Fluss zum tief im Schatten liegenden Haus der Cranes, wo Luanne am Ende des Schwimmstegs auf dem einzigen sonnigen Fleckchen des Grundstücks bäuchlings mit aufgehaktem Bikinioberteil auf einem Liegestuhl lag. Sie bräunte vor sich hin wie einer von Joannas Brotlaiben, und nur, um von dem mit Wasser verdünnten Weißwein zu trinken, den sie in ein Einmachglas voll schmelzender Eiswürfel gestellt hatte, hob sie den Kopf und öffnete die Augen. Ihr Kakaobutterduft wehte aufs Wasser hinaus, und die Jungs konnten die Augen nicht von ihr losreißen.
    Gegen Abend ruderte, schwamm oder trieb Margo schließlich nach Hause. Dann erwachte ihre Mutter, die Rückkehr der Tochter vorausahnend, stellte sich – mitunter ein wenig schwankend – auf den Steg und hielt ihr ein Handtuch hin, Margos Lieblingshandtuch, das extragroße mit dem grünen Dschungelmuster. Zähneklappernd ließ Margo sich von ihrer Mutter ins Handtuch hüllen und drücken. Erst dann roch sie die süßliche Weinfahne inmitten der Kakaobutterwolke. Luanne sagte »Gleich sind wir da, Margaret Louise«, während sie eng umschlungen über den Steg und das Ufer entlang zum Haus gingen. Im Windfang suchten sie Margo nach Blutegeln ab und bestreuten die Nachzügler mit Salz. Kaum hatten sie beide geduscht, verzog Luanne sich mit ihrer Weinflasche ins Bett, um fernzusehen oder ihren Zwölf-Stunden-Schlaf in Angriff zu nehmen, während Margo sich auf die Couch legte und darauf wartete, dass ihr Vater von der Spätschicht in der Metallfabrik heimkam. Dann blätterte sie manchmal in ihrem Buch über Annie Oakley, an deren düsterem Gesicht sie sich nicht sattsehen konnte. Annie wirkte mit ihren Büchsen und Flinten so natürlich, dass Margo glaubte, jedes Mädchen würde gern ein Gewehr tragen. Als sie dies einmal zu ihrer Mutter sagte, erwiderte Luanne müde, sie verstehe nicht, wie Annie Oakley so viel »schießen konnte, ohne mal irgendwen zu töten, ja, ohne einfach alle abzuknallen«. Margo brachte anschließend nie wieder die Sprache darauf.
    Nach einem schweren Sturm oder plötzlichem Tauwetter konnte es vorkommen, dass der Fluss sprunghaft anschwoll und jede Menge Unrat mit sich führte: laienhaft vertäute Boote etwa oder Bruchstücke von Flößen und Stegen, die gegen Bäume geschmettert worden waren. Dann wurde alles Mögliche an die Ufer geschwemmt: riesige Fässer, veralgte Bojen an Nylonschnüren, Tierkadaver. Und die Fluten rissen auch das mit sich fort, was die Murrays nicht gesichert hatten oder nicht sichern konnten: Sand aus der Sandkiste, Schweinemist von dem halben Dutzend Schweine auf der Weide, Gartenpfähle und Tomatenranktürme, die seit dem Vorsommer draußen standen, Spielzeug und Hundenäpfe, Tausende Schrot- und Patronenhülsen auf dem Boden neben der Scheune. Die jährlichen Überflutungen durchspülten die Höhlen der Bisamratten, ersäuften die Maulwürfe, rissen Feuertonnen mit sich, trugen Grund ab und wuschen ganze Landstriche sauber. Einmal verloren die Cranes im Februar nach einer frühen Schneeschmelze ein Klafter Brennholz, das sie allzu nah am Wasser gestapelt hatten.
    Der Tod von Margos Großvater, als sie vierzehn war, traf die Familie wie eine dieser Fluten zum Ende des Winters. Er ließ alles gefrieren und spülte nicht nur die alte Generation fort, sondern auch den unsichtbaren Kitt und die Bande, die die Murrays zusammengehalten hatten. Margo hatte so oft, wie man es ihr erlaubt hatte, am Krankenbett ihres Großvaters im Wintergarten gesessen. Nach der Beerdigung ging sie mit Onkel Cal hinaus, schob wie Annie Oakley fünfzehn Patronen in Cals Marlin-Lever-Action-Büchse Kaliber .22, fädelte den Arm durch die Schlinge und zielte über Kimme und Korn auf die Zielscheibe aus Papier. Als der erste Schuss danebenging, riet ihr Cal, sich im Schneidersitz hinzusetzen und die Schlinge enger zu ziehen. Die folgenden vierzehn Schuss trafen die Scheibe dicht nebeneinander gleich links von der Mitte.
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