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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche
Autoren: Aris Fioretos
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erfreulich, dass uns der Autor zu einigen jener Glücks- und Unglücksorte mitnimmt, die es in jedem Leben gibt. Es ist erfreulich, dass er Orte und Gestalten, die leicht vergessen werden, sowohl in der Phantasie als auch in Makedonien präsentiert. Aber für jemanden, der seine Schrift unter die Lupe nehmen möchte, für jemanden, der sie nutzen will, um ein Schicksal des 20. Jahrhunderts besser zu verstehen, erweist sich sein Bericht als aufreizend unförmig – wortreich in Situationen, in denen ein Adjektiv gereicht hätte, stumm in Momenten, in denen ein Lexikon vonnöten gewesen wäre. Ich habe das Gefühl, Kezdoglou plagte ein »iberaus« schlechtes Gewissen. Es fragt sich, warum. Und es fragt sich, warum er trotz der Ereignisse, die der Drucklegung dessen vorausgingen, was 1969 der letzte Band der Enzyklopädie werden sollte – als sein Freund eine unerwartete Entdeckung machte und auf einem Hinterhof in Südschweden eine Bücherverbrennung improvisierte –, warum er trotz dieses »Zwischenfalls in Lund«, wie er in handverlesenen Kreisen genannt werden sollte, beschloss, zur Bühne seiner Niederlage zurückzukehren. Nachdem ich das Material lektoriert habe, drängt sich mir nur eine Antwort auf: Er bemüht sich um eine Rehabilitierung. Für wen, muss der Leser selbst entscheiden.
    Wenn ich nun ein letztes Mal die Finger über die Karteikarten wandern lasse, vom 19. Jahrhundert der Vorgeschichte mit seinen verrußten Nischen bis zum hellen Wohnzimmer von heute, sticht mir die Unzuverlässigkeit des Berichtenden ins Auge. Seltsamerweise erfüllt sie mich mit Zärtlichkeit – für die Eishockeyspieler von Tollarps IK mit ihren überdimensionierten Trikots und ihrer tabakfarbenen Spucke, für die frei erfundenen Jungs, die unsere Hauptperson in ihrem Zimmer neben der Ölheizung besuchten, für die Mutter mit der perfekten Frisur und den wohlriechenden Achselhöhlen, und natürlich für ihren Mann, der beim Anblick der Panzer, die durch Athens Straßen rollten, ausrief: »Das ist der schwärzeste Freitag in der Geschichte des Monats April« – ja, für jeden Voll-, Halb- oder Viertelgriechen an jenen Orten, an denen sich die nun folgenden Szenen abspielen, aber auch für die Mücken, Kühlschränke und Kissenbezüge der Vergangenheit, für deren Ziegen, Streichhölzer und Zehndrachmenmünzen, für jene »liebreizende Bäckerstochter«, die vor hundert Jahren einen tauben Liebhaber traurig machte, der Geschichte jedoch einen Dienst erwies, sowie für jenen anonymen Gentleman, der zweihundert Jahre zuvor sein Shandyglas abstellte und das Krocketspiel erfand. Und natürlich für das Mysterium mit pomadisierten Haaren: Jannis Georgiadis. Denn so lautet der Name des Helden in unserem Kasten …
    Aber jetzt klinge ich schon fast wie Kezdoglou. Möge er in Frieden ruhen. Zwei Dinge noch. Vermutlich bin ich jener Anton Florinos (*1960), der gelegentlich erwähnt wird. Als mir die Karteikarten in die Hände fielen, war ich jedoch unsicher, ob dies ein Wesen mit Haut und Hämoglobin war. Ehrlich gesagt weiß ich bis heute nicht, was ich denken soll. Obwohl mich diese Ungewissheit inzwischen weniger stört. Wie Jannis sagte, als ich ihn auf dem Handy erreichte, er es aber ablehnte, das Material in Augenschein zu nehmen: Jeder Mensch muss selbst entscheiden, wie er andere in Erinnerung behalten möchte. Versteht es sich nicht von selbst, dass die Erinnerungen sich wie Textilien um einen nackten Körper schmiegen, der nirgends fest ist? In veränderlichen Formen gebundenes Wasser: Vermutlich ist keiner von uns viel mehr.
    An einer Stelle wird der Porträtierte zum »schwedischen Herakles« ernannt. Das wäre ein schöner Titel für ein Buch. Aber nicht für dieses. Im Übrigen frage ich mich, was die Gehilfinnen Clios gesagt hätten, wenn ihnen zu Ohren gekommen wäre, dass er noch lebt, während der Porträtist bereits tot ist. Wenn ich hiermit endgültig den Deckel schließe, fällt es schwer, sich nicht zweier Zeilen zu entsinnen, die Kezdoglou zitiert: Ein Fremder daheim, ein Fremder fernab, / Ein Fremder noch hier im Paradies . Treffen diese Worte vielleicht eher auf den Autor zu, der nun in seinem gänzlich anders dimensionierten Holzkasten ruht? Eine weitere Zeile aus dem gleichen Werk drängt sich auf: Komm, obgleich zu spät, mein frommes Heldenlied …
    Aris Fioretos
    Sparta, 2009



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    Goethe

DIE ZEITRECHNUNG BEGINNT . Auch Sachbücher benötigen einen Helden. In diesem
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