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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche
Autoren: Aris Fioretos
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weniger auffällige Auftritte in der Geschichte gegeben – zum Beispiel um kurz nach fünf, als der Doktor auf den lautlosen Gummisohlen seiner Vagabonds das Wartezimmer betrat. Er trug ein kratzendes Hemd, eine Strickkrawatte und einen weißen Kittel mit Kugelschreiberstrichen an der Brusttasche. Während Schwester Elsa mit dem Rücken zu ihrem Chef die Kaffeekanne ausspülte, überflog dieser das Krankenblatt. Anschließend ging er zu dem unbekannten Patienten und sprach ihn in seiner Muttersprache an: »Éllinas íse?«
    Jannis pflückte das Streichholz aus seinem Mund und lächelte zum ersten Mal an diesem Tag ungezwungen. »Ich bin Ioannis Georgiadis, Student von der Universität Bromölla.« Sein Schwedisch war zwar etwas unbeholfen, aber korrekt. Flüsternd fuhr er in seiner Landessprache fort: »Aber Sie können mich Jannis nennen, Herr Doktor. Ich bin nicht so feierlich.« In dieser vertraulichen Anrede lag das Geheimnis seiner Erfolge im Leben, über die später die Presse schreiben sollte. Sie weckte Beschützerinstinkte. So auch bei Manolis Florinos, der es in seiner Eigenschaft als Arzt ansonsten gewohnt war, dass ein kühles Stethoskop, auf eine aufgeregte Körperstelle gepresst, völlig ausreichte, um das grundlegende Bedürfnis eines Menschen nach Geborgenheit zu stillen.
    Die Praxis schloss um kurz nach fünf, sobald sich der Arzt nach einer akuten Gallensteinoperation die Hände gewaschen hatte. Danach begleitete ihn der Patient, der nicht krank, sondern Grieche war, in das Dorf vor den Toren der Stadt, in dem Florinos mit Ehefrau und Söhnen lebte. Balslöv hieß der Ort. Der Name ist möglicherweise schon etwas bekannter? Hier wurde der Abschied zu einer Disziplin ausgerufen. (Auch darauf werden wir zurückkommen.) »Dienstwagen?« Jannis nickte zu einem schneebedeckten Ford Zodiac hin, der im Vorjahr gebraucht gekauft worden war, kurz danach steckte Manolis den Zündschlüssel ins Schloss. Als er sich ans Steuer setzte, reckte er sich und drückte die Beifahrertür auf, die sich nur von innen öffnen ließ. Sein Landsmann, der bereits mehrere Fahrstunden absolviert hatte, bevorzugte jedoch die Rückbank – »Mir wird beim Autofahren leicht schlecht« – und steckte sich ein neues Streichholz in den Mund.
    Als die Männer eine Stunde später die Küche von Haus Seeblick betraten – der Wagen hatte zunächst nicht anspringen wollen, die Straße war teilweise alles andere als geräumt gewesen –, stellte der Gast seinen Koffer ab. Auf der Rückbank sitzend hatte er von einer Kindheitserinnerung erzählt. Nun wollte er sich von dem Gefühl befreien, er könnte dabei anders als sehr gebildet gewirkt haben. Nachdem er seine Schuhe ausgezogen hatte, ging er zu Lily, die an der Spüle Fleisch panierte. »Frau Doktor!« Manolis’ Ehefrau, die nur Leuten, die sie nicht mochte, gestattete, sie »Frau Doktor« zu nennen, wunderte sich – allerdings nicht über den unerwarteten Besuch auf Strümpfen. Besuch bekam sie oft, auch unerwarteten. Einmal war ihr Gatte in Begleitung Ado von Reppes nach Hause gekommen. Ohne die Fasane abzulegen, die über seiner Schulter hingen, hatte der tweedgekleidete Kollege stehend, in argylekarierten Strümpfen und binnen exakt dreißig Minuten ihren Vorrat an Madeira geleert. Bei anderer Gelegenheit hatte sie mitten in der Nacht Geräusche gehört. Sie vergewisserte sich, dass ihr Mann nicht neben ihr lag, warf sich den Morgenmantel über und ging in die Küche hinunter, wo sie ihn in Gesellschaft des Dorfelektrikers fand. Die Männer standen mit Holzlöffeln in den Händen auf Küchenstühlen und kicherten wie Schulmädchen. Auf dem Fußboden krabbelten, ihre Scheren eigentümlich vor sich her schwingend, glänzende Flusskrebse. Heute brachte Manolis jedoch erstmals einen Landsmann mit nach Hause.
    Dass es sich um einen Griechen handelte, hatte Lily erkannt, noch ehe sich der Gast vorstellte. Es genügte ihr, die braune Gabardinehose zu sehen, die Ton in Ton zu den Strümpfen, dem aufgeknöpften Hemd und der Jacke passte, die für diese Jahreszeit ungeeignet waren. Es genügten die Schuppen in den pomadisierten Haaren, die blauschwarzen Schatten auf den Wangen und die schlechte Armbanduhr, eventuell ein sowjetisches Fabrikat. Es genügte, den schwachen und feuchten Druck der kräftigen Hand zu spüren und die Jacke an den Schultern knarren zu hören, wie nur Lederimitate es können. Es genügte, den olivfarbenen Teint, die Schuhe an der Tür oder den Geruch männlichen
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