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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche
Autoren: Aris Fioretos
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Lebensmittelhändler, der neben ihm ging, zuckte mit den Schultern. Er wusste, dass man den Neugeborenen ohnehin nur Jannakis nennen würde. Dieser Rufname hielt in einer Familie, in der die Männer immer denselben Vornamen trugen und sonst keiner gewusst hätte, wer gemeint war, die Generationen auseinander.
    Seinen ersten Auftritt in der Geschichtsschreibung hatte Jannis, zumindest nach Angabe der Enzyklopädie der Auslandsgriechen , im braungelben Vereinstrikot des Tollarper Eishockeyvereins – dem mit den gekreuzten Schlägern auf der Brust. Im, wie sich herausstellen sollte, letzten Band des Nachschlagewerks wird eine Lokalzeitung vom Februar 1968 zitiert. Dort heißt es im Sportteil: »Ein junger Hellene, Tollarps hoffentlich letzte Neuverpflichtung, brachte mit einem auf dem Eis sitzend erzielten Tor die erste Partie der Saison in Schwung. 1-0? Kaum hatte Georgiadis einem seiner Mannschaftskameraden diese Frage gestellt, als auch schon ein Tumult ausbrach. Handschuhe flogen, Kinnschoner wurden aufgeknöpft, Helme holperten über das Eis. Das Chaos endete erst, als der Schiedsrichter die Pfeife aus dem Mund nahm und das Tor für regelkonform befand – ›im Gegensatz zu dieser Spielweise‹. Woraufhin er auf Tollarps ausländische Neuverpflichtung und anschließend auf die Strafbank zeigte. Das Urteil war hart, aber gerecht: ›Sperren, unerlaubter Check, technischer Fehler … Soll ich weitermachen?‹ Der Referee wäre dazu bereit gewesen, aber als er die Gesichter der Heimmannschaft sah, beließ er es dabei, hinzuzufügen: ›Fünf Minuten Strafe. Das Eigentor zählt. 0-1 für Nosaby.‹ Was übrigens auch das Endergebnis dieser ansonsten ereignislosen Partie war.«
    Bisher unbekannte Dokumente belegen jedoch, dass sich Jannis’ Eintritt in den verbrieften Teil der Geschichte ein knappes Jahr vorher ereignete, genauer gesagt am dritten Freitag im dritten Monat des keineswegs sorglosen Jahres 1967, viele Meilen von seinem geliebten Áno Potamiá entfernt. Und mit diesem Ereignis beginnt die Zeitrechnung in unserer Darstellung.
    BIST DU GRIECHE? Am fraglichen Freitag saß Jannis in der Chirurgischen Praxis des Krankenhauses von Kristianstad. Der Name der Stadt sagt einem vielleicht nicht viel, aber damals war es ein wichtiger Ort. Es gab dort eine Garnison, einen Samstagsmarkt und einen Wasserturm aus Stahlbeton. Sowie einen gemeldeten Griechen. Der unbekannte Patient, der mit einem Pappkoffer und einem Streichholz im Mund gekommen war, blätterte in einer Illustrierten. Schwester Elsa stand, eine Strickjacke über den Schultern, hinter dem Tresen und musterte ihn. Als sie sich bei ihm erkundigte, ob er einen Termin habe, hatte er weder Anzeichen von Schmerz, noch von Eile gezeigt. Stattdessen hatte er verlegen gelächelt, das Streichholz vom einen Mundwinkel in den anderen verschoben und sich abgewandt – auch als sie zur Kaffeezeit eine auffallend freundliche, für den Patienten jedoch rätselhafte Miene aufgesetzt hatte. In der Hand hatte sie fragend eine Zimtschnecke gehalten.
    Elsa Nord war seit vielen Jahren Krankenschwester, mit einem Lokalreporter verheiratet und daran gewöhnt, sich an die Vorschriften zu halten. Folglich ist eine Krankenakte erhalten geblieben, die uns, obgleich sie nie Verwendung fand, eine erste Personenbeschreibung des Fremden in dem Wartezimmer mit den tanggrünen Linoleumfliesen liefert.
     
    ALTER: 24 Jahre
    GRÖSSE: 1,78 m
    GEWICHT: 67 kg
    BRILLE: Nein
    FRÜHERE ERKRANKUNGEN: Lungenentzündung
    BERUF: Gastarbeiter?
    − steht darin in der gepflegten Handschrift der Krankenschwester. Nicht viel, aber mehr, als man verlangen kann. Wir hätten hinzufügen können: plattfüßig, vermutlich Linkshänder und mit einem Robert Mitchum-Grübchen im Kinn. Unter BESONDERE BEFUNDE ergänzte die Krankenschwester jedoch: »Keine. Der Patient spricht allerdings mit starkem Akzent, so dass man es nicht genau weiß.«
    Das ist unser Mann. Das ist Jannis Georgiadis, auch Supergrieche, Himmelsstürmer und schwedischer Herakles genannt. Sehen Sie ihn sich an. Sehen Sie ihn sich so an, wie er uns zum ersten Mal in den Annalen entgegentritt: lächelnd, plattfüßig und muskulös. Obwohl er in der sterilen Umgebung ein wenig gestutzt wirkt, hat er die unbekümmerten Bewegungen eines Helden, den belastbaren Rücken eines Bauern. Spüren Sie die Ruhe seiner Hände. Spüren Sie den Hunger in seinem Blick. Das ist ein Vierundzwanzigjähriger mit einer Stimme wie aus Hufschlägen und Rauch. Es hat
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