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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche
Autoren: Aris Fioretos
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VORWORT
    Kostas Kezdoglou starb am 6. Februar dieses Jahres in der Universitätsklinik von Lund. Ein Leben in der Gesellschaft Prince
     Denmarks forderte Tribut. Als seine Schwester Efi die Hinterlassenschaft durchsah, stieß sie auf einen Kasten, den ihr Bruder etwa zu der Zeit von seiner
     Frau bekommen hatte, zu der dieses Buch enden wird. Er war aus unbehandeltem Fichtenholz, zwanzig Zentimeter breit, fünfundzwanzig tief und ungefähr halb
     so hoch. Auf einem Post-it standen mein Name und meine Telefonnummer sowie die Aufforderung, zu tun, was in meinen Augen »für den Inhalt das Beste«
     sei. Wenige Tage später hob ich den Deckel ab und erblickte hunderte dicht gedrängter, gelber Karteikarten. Die oberste Linie war weinfarben wie die
     Furche in einem Handteller, die übrigen dreizehn hellgrau wie die Innens
eite des Himmels. Manche waren vollgekritzelt, andere fast leer. Reichte der Platz auf einer Karteikarte für ein Thema nicht aus, hatte der Autor mehrere benutzt. Folglich gab es zahlreiche Päckchen, die von Büroklammern oder Gummiringen zusammengehalten wurden. Ganz oben stand im Allgemeinen eine Überschrift, die einem die Orientierung erleichterte.
    In Absprache mit Efi reifte der Entschluss, dass ich versuchen sollte, das Manuskript zu veröffentlichen. Allem Anschein nach betrachtete ihr Bruder es als vollendet. Ich habe sprachliche Fehler berichtigt, die typisch für eingewanderte Griechen sind, stilistische Eigenarten dagegen bewahrt. Die Anordnung der Karten ist ebenfalls unangetastet geblieben, obwohl ich mich versucht fühlte, sie neu zu sortieren, um die Darstellung direkter zu machen. Ich nehme an, Kezdoglou wollte zeigen, dass Chronologien relativ sind. Die redaktionelle Arbeit wurde in seinem alten Arbeitszimmer erledigt, wo auch diese Zeilen an einem Tag zu Papier gebracht werden, der eigentlich sein Geburtstag ist. Gleichwohl wird der Text nicht ohne Zweifel veröffentlicht, die ich im Folgenden offenlegen möchte. Doch ehe dies geschieht, muss der Hintergrund skizziert werden, denn sonst riskiert dieses »Sachbuch«, merkwürdiger zu wirken, als es ist.
    Wir schreiben das Jahr 1922. In Smyrna hört man Schreie und zersplitterndes Glas, durchgehende Pferde und etwas, was Theaterdonner sein könnte, aber keiner ist. Da der Autor in Kürze selbst schildern wird, was sich abspielte, als die griechische Minderheit von Atatürks Truppen vertrieben wurde, möchte ich den Ereignissen nicht vorgreifen, muss aber erwähnen, dass seine Großmutter auf einen der Todesmärsche gezwungen wurde. Eleni wurde in jenem Herbst achtunddreißig und marschierte mit den Griechen und den Tieren, die in Kolonnen aus der wahnsinnigen Stadt auszogen. Viele kamen um, andere verschwanden. Im Spätherbst gelang es ihr, nach Zypern überzusetzen. Zum Schutz gegen die steife Brise trug sie einen bestickten Wintermantel, unter den Arm geklemmt hielt sie einen Stapel Fotografien, einen krümeligen Lippenstift und den selbst fabrizierten Rückspiegel des Austin ihrer Familie. Sie war tapfer, sie war untröstlich, sie hatte kurz zuvor den Ehemann und zwei ihrer drei Kinder verloren.
    Nach einigen Monaten in der Stadt, die von den Griechen Ammóchostos und von anderen Famagusta genannt wurde, ging Eleni an Bord eines Frachters, der nach Thessaloniki auslief. In den folgenden Jahren fühlte sie sich wie eine Spinne ohne Beine. Ihre Gedanken kreisten ausschließlich um die Verlorenen, sie war krank vor Sehnsucht nach ihnen. Später sollte sie einen Witwer mit eigenen Kindern kennenlernen und erneut eine Familie gründen. In der ersten Zeit erschien ihr der bloße Gedanke an eine neue Existenz jedoch als Verrat. »Phantomschmerz« pflegte sie jedem zu sagen, der ihr zuhören wollte, »ich bestehe ganz und gar aus dieser jämmerlichen Sache.« Erst als der Witwer – ein Briefträger aus einem Dorf in den Bergen – das Hauptpostamt besuchte, in dem sie Arbeit gefunden hatte, spürte man eine Veränderung. Und nach Ereignissen, die besser andere schildern sollten, begann sie, ihre Erinnerungen an eine Welt aufzuzeichnen, die zum Ausland geworden war.
    Mit der Zeit wuchsen die Stapel alter Briefumschläge und Telegramme, auf denen sie schrieb. Wenn sie sich früherer Bekannter entsann, musste sie herausfinden, wer deren Eltern gewesen waren, was wiederum Fragen nach der Herkunft der Familie aufwarf, nach Ereignissen, Geheimnissen und verwischten, fast unsichtbaren Abdrücken in der Geschichte. Die Erkenntnis, dass kein
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