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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche
Autoren: Aris Fioretos
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Mantels darüber reiben. »Ist das nicht phantastisch? Ich wurde Zeuge einer zukünftigen Erinnerung.« Nein, der Blick im Spiegel ließ sich nicht einfangen. Florinos war mit seinen Gedanken woanders. Er überlegte, ob im Kofferraum eine Schaufel oder Schneeketten lagen, ob der Reservekanister voll war und wie weit sie noch fahren mussten. Gedanken dieser Art. Momentan krochen sie Meter für Meter vorwärts. Es knirschte gutmütig unter den Reifen, obwohl man schon bald nicht mehr sehen können würde, ob sie noch der Landstraße folgten. Nach weiteren schwerelosen Minuten türmte sich vor ihnen jedoch ein Traktor auf. Gerettet. Die Lichtkegel, auf sie gerichtet, waren so groß wie Strandbälle, die Gabel gesenkt und riesig. Auf dem Dach ließ eine Lampe gelbes, irres Licht rotieren. Als die Fahrzeuge einander passierten, hob der Schneeräumer eine Hand zum Gruß. Es war Ingemar Nyberg, der Dorfelektriker. Augenblicklich wurde der Straßenbelag ebener, griffiger, fast leichtsinnig. » Gamó tin panajía , das ist ja heute …« Jannis hörte sich an, als hätte er sich selbst bei einem Diebstahl oder bei etwas noch Schlimmerem überrascht, vielleicht einer Palastrevolution.
    »Entschuldige, was hast du gesagt?« Mittlerweile fuhr Manolis ruhig und methodisch. Kurze Zeit später nahm er den Fuß vom Gas und manövrierte den Wagen über eine Eisenbahnlinie, die sich rechts und links im Nichts verlor. Sie hatten nur noch einen Kilometer zu fahren. »Ich sagte, die Erinnerung ist heute wiedergekehrt. Nach all den Jahren. Überraschend, Herr Doktor, das muss man schon sagen.« Der Fahrgast schüttelte den Kopf. »Manchmal frage ich mich, wo sie sind, wenn wir nicht an sie denken. Die Erinnerungen, meine ich. Wie dieses Loch im Himmel. Über zehn Jahre ist es fort gewesen. Hat es sich vielleicht in einem Kissenbezug versteckt gehalten?« Er gluckste leise.
    Ehe die Männer aus dem Auto steigen – der eine in warmen Vagabonds mit Galoschen, der andere in dünnen Mouriadis ohne –, müssen wir dem Fahrer, Jahrgang 1931, ein wenig Aufmerksamkeit schenken. Was dachte er, als Jannis, zugleich hochtrabend und naiv, so redete? Ehrlich gesagt: nichts Besonderes. Der bisher einzige gemeldete Grieche in der Gemeinde Kristianstad sparte sich eine Antwort, weil ihm sein Landsmann sympathisch war. Ihm gefiel das unverstellte Vertrauen, die Neugier auf die Welt in all ihrer Schönheit und Verrücktheit, und so zog er es vor, seinem Fahrgast zu lauschen.
    Während der Wagen mit schräg gestellten Vorderrädern und ausbrechendem Heck vom Bahnübergang hinunterrutschte, fuhr Jannis, durch das Schweigen ermuntert, fort, sich zu wundern. »Wenn ich an diesen anderen Jungen denke, wird mir klar, dass die Zeit auch für ihn stehen geblieben sein muss. Und wenn das so ist, hat er mit Sicherheit auch erkannt, dass … Ópa , Herr Doktor! Das war knapp.« Manolis drehte das Lenkrad erst in die eine, dann in die andere Richtung. Sie entgingen dem Schlagbaum und im nächsten Moment fanden die Räder wieder Halt. Als der Wagen erneut Fahrt aufnahm, lehnte Florinos sich vor. »Dieses verdammte Kondenswasser. Ich begreife nicht, was mit dem Gebläse los ist.« Er drehte an dem Regler. »Ach übrigens, du kannst mich Manolis nennen«, stöhnte er und lehnte sich zurück. Das Auto schaukelte kurz. »Hast du mal daran gedacht, dass ich vielleicht dein Doppelgänger war?«
    Bei dem Gedanken schwindelte es Jannis. Er konnte nicht mehr alle Mücken im Kopf behalten, sondern setzte sich auf und machte einige athletische Bewegungen mit dem Nacken. Er war müde und hungrig, er fühlte sich nicht recht wohl. Es war alles ein bisschen viel auf einmal. Das meinte auch der Doktor, als sie auf die Schotterpiste bogen, die um das Grundstück von Haus Seeblick herumführte und die Nyberg kürzlich geräumt hatte. »Das war ein bisschen viel auf einmal.« Er tastete nach der Handbremse. Die knarrte. »Hast du Hunger?«
    VERZEICHNIS FRÜHER MÜCKEN. Es folgen einige der Fragen− »Mücken« genannt −, die sich Jannis nach dem Tod seines Vaters, an einen Kastanienbaum gelehnt, ausdachte. Das Verlangen nach Antworten sollte erst später und in weiter Ferne auftauchen und auch nicht allen Fragen gelten. Angesichts der Fragen meinte seine Großmutter, er trage den Kopf in den Wolken. »Pass auf, dass du dich nicht stößt.« Dabei gluckste sie jedesmal so, dass ihr Busen bebte wie ein Vogelnest. »Mein Himmelsstürmer …«
    »Kann man die Zeit anfassen?«
    »Findet
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