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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche
Autoren: Aris Fioretos
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Heimatregion mit Wasser gegeizt worden. »Lieber ein schmutziges Kind als ein trockener Hals«, lautete eine der gängigen Redensarten. »Spar deine Spucke, im Sommer wirst du sie noch brauchen«, eine andere. Bei Geschäften, die Liebe, Kuhhandel und verwandte Angelegenheiten betrafen, verkündeten die Einwohner gerne «Das war der letzte Tropfen« oder auch »Nicht einen Tropfen mehr«, wobei sie mit der Zunge schnalzten, um zu zeigen, dass sie beabsichtigen, ihre Spucke zu sparen, auch wenn diese weiß und trocken geworden war und in den Mundwinkeln klebte. Und während der elenden Kriegsjahre bot sich vielen die Gelegenheit zu wiederholen: »Ein Mensch lässt sich immer ersetzen, aber Wasser?« Wenn das Gegenüber trotzdem keine Vernunft annehmen wollte, fragte man rhetorisch: »Was ist? Hast du Haare in den Ohren?« Unter diesen Umständen konnten die Bauern nur Tabak und Wortkargheit mit Aussicht auf Erfolg kultivieren, der Rest taugte bestenfalls für Mythen.
    Einmal in der Woche tauchte ein schwarzgekleideter Mann mit einem Eselskarren auf. Am hinteren Ende baumelte ein rotes Rücklicht von einem der ersten Busse, die diese Berge in den zwanziger Jahren besucht hatten. Inzwischen lag das Fahrzeug – ein alter Scania-Vabis – verkohlt und skelettiert in einer Schlucht, nachdem es eine Zeit lang Flüchtlingen als Unterkunft gedient hatte. Wo das andere Rücklicht hingekommen war, wussten fast nur die Männer der näheren Umgebung. Normalerweise traf der Schwarzgekleidete so früh ein, dass er aus der Nacht und nicht aus dem Tal zu kommen schien. Wenig überraschend wurde er »Die Apokalypse« genannt. Er hatte einen alttestamentarischen Bart – nicht so sehr Hiob, eher Jesaja – und war stumm, wodurch sich der Eindruck noch verstärkte, dass er aus einem Reich jenseits des Fassbaren stammte. Wer verschlief, konnte dennoch mühelos ermitteln, welchen Weg das Gespann genommen hatte. Man brauchte bloß dem Rinnsal zu folgen, das sich durch den Kies schlängelte, den Anstieg zum oberen Teil des Dorfes hinauf, mit Kurven so sanft und dunkel wie die einer Blindschleiche, oder das Gejohle der Kinder zu hören. Auf der Ladefläche, im Schatten eines Dachs aus geflochtenen Maisblättern, lagen zwei eingewickelte Eisblöcke. Die Kinder versuchten das Wasser aufzuschlecken, das von dem Karren herablief. Manche legten sich kühn mit aufgerissenem Mund vor dem Gespann auf die Erde, aber die meisten sprangen auf und pressten ihre Lippen gegen die Decken. Der Eishändler ließ sie gewähren. Wer nicht riskieren wollte, sich zu vergiften, musste ohnehin eine der Flaschen mit destilliertem Wasser nehmen, die er ebenfalls verkaufte.
    Aus den Decken stieg ein kühler Dampf auf, der die meisten Dorfbewohner mit feierlichem Ernst erfüllte. Wenn man das Ohr an die Decke presste, knisterte es darunter wie auf fremden Frequenzen. Vater Lakis, der einzige studierte Mensch des Orts, machte Scherze über ein mobiles Delphi. Er spürte eine Konkurrenz im Hinblick auf jenseitige Angelegenheiten. Obwohl der Einzug des Eises keine Seltenheit war, wurde er mit größerer Freude als Namenstage und Feiertage willkommen geheißen, weshalb jemand, der das Ereignis verschlief, in der Regel mit folgenden Worten geweckt wurde: »Raus aus den Federn! Der Jüngste Tag ist gekommen!«
    UNBEKANNTE WELLENLÄNGE . Ein typisches Gespräch der damaligen Zeit hatte folgenden Wortlaut. Der Ort: Der »obere« Teil des Dorfs, Áno Áno Potamiá genannt. Die Apokalypse hat soeben den Karren neben einem Betonsockel geparkt, von dem man erst kürzlich ein Maschinengewehr abmontiert hatte. Die Zeit: Herbst 1949. Der Bürgerkrieg ist vorbei, aber versprengte Truppenteile der Demokratischen Armee halten sich noch in der Gegend auf. Personen: Ein sechsjähriger Junge aus dem Dorf, ein siebenjähriges Mädchen aus dem Nachbardorf, zu Besuch mit seiner Großmutter.
    SECHSJÄHRIGER JUNGE: Du musst dein Ohr direkt an das Eis legen.
    SIEBENJÄHRIGES MÄDCHEN (lachend) : Aber dann friert es doch fest!
    SECHSJÄHRIGER JUNGE: Ach, stell dich nicht so an, Efi.
    SIEBENJÄHRIGES MÄDCHEN: So?
    SECHSJÄHRIGER JUNGE (eifrig) : Hörst du was?
    SIEBENJÄHRIGES MÄDCHEN: Nein … Warte …
    SECHSJÄHRIGER JUNGE: Was?
    SIEBENJÄHRIGES MÄDCHEN (ungläubig) : Mücken?
    ÜBER WASSER UND ANDERE FRAGEN DES JÜNGSTEN TAGS (TEIL ZWEI) . Schon als Kind schmiedete Jannis Pläne, mit deren Hilfe er der Apokalypse zuvorkommen und den Zugang zu Wasser verbessern würde. Er bastelte
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