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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche
Autoren: Aris Fioretos
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wohl nur ein Gerücht). Später wurde der schwarzgekleidete Mann durch einen Tankwagen ersetzt, und in den sechziger Jahren kamen die staubigen Lastendreiräder. Wenn sie mit mürrischen Fahrern in kurzärmligen Hemden und Ladeflächen, auf denen die Behälter bebten, in Makedonien ausschwärmten, klangen sie wie heisere Nähmaschinen. Auf die Art verlor das Wasser sowohl in flüssiger als auch in gefrorener Form nach und nach seine geostrategische Bedeutung. Mit der Zeit wagten manche Einwohner sogar, sich Kühlschränke anzuschaffen, ohne sie beim Amt für Hydrologie anzumelden. Dann wurde die »Operation Prometheus« durchgeführt. Und danach wurde alles wieder schlimmer, nicht nur in Áno Potamiá.
    HIMMELSSTRASSE . Gründe für Jannis’ Abschied von seinem Heimatdorf gab es viele, den Ausgangspunkt aber bildete ein Ereignis drei Jahre bevor er in den Überlandbus stieg. Mit launischen Winden und überraschenden Niederschlägen war es in jenem Jahr früh Herbst geworden. Eines Nachts stürzte im Stall der Familie das Dach ein. Die Tiere blieben unverletzt, allerdings wurde der Holzkühlschrank, den Jannis übernommen hatte, als der Kaffeehausbesitzer sich endlich einen aus Metall leisten konnte, beschädigt. Mörtel rann in reißenden Schmutzwasserbächen davon, die Plastikplane, die Jannis festnagelte, half nur bedingt. Seine Mutter behauptete, schuld an dem Unglück seien die Versuche ihres Sohns, die Niederschläge zu disziplinieren, und deutete an, der Kühlschrank habe bei den Wettergöttern den Geduldsfaden reißen lassen. Am Ende war er ihre Litaneien so leid, dass er die örtliche Wahrsagerin aufsuchte. Die alte Frau Poulias schüttelte den Kopf. Vermutlich »spielten« die höheren Mächte nur, obwohl es sicherlich nicht schaden könne, in alle vier Himmelsrichtungen zu spucken und Beschwörungsformeln zu murmeln. Da Jannis sich nicht auf seine Fähigkeit verlassen mochte, die Mutter oder die Götter gnädig zu stimmen, stellte er den Kühlschrank sicherheitshalber unter den Mandelbaum. Er wollte kein Risiko eingehen. Wenn die Dachbalken nicht wieder aufgerichtet und keine Dachziegel verlegt wurden, würden die Stallwände früher oder später nachgeben.
    Deshalb saß er an diesem Freitagmorgen ausnahmsweise an dem filzbezogenen Tisch im kafeníon des Dorfs. Zu seiner Linken thronte Thanassis Tsoulas, der den Weinhandel seines Vaters übernommen hatte und in der näheren Umgebung Land aufkaufte. Ihm wurde eine politische Karriere prophezeit. Zu seiner Rechten saß bárba Pippis, der gerade Wasser in seinen Ouzo goss. Die Prozedur wurde mit der gleichen Umständlichkeit ausgeführt, die seine Kunden im Lebensmittelgeschäft meckern ließ, die Waren würden schon vergammeln, noch ehe der Alte kassiert habe. Ihnen gegenüber hielten die beiden Bulgaren des Dorfs abwechselnd die Karten. Eines Frühlingstages hatten sie mit irren Augen, aber wild entschlossen, auf dem Marktplatz gestanden. Wie es ihnen gelungen war, über die Grenze zu kommen, konnte sich niemand erklären, am allerwenigsten sie selbst. Wahrscheinlich hatten sie die Berge an einer Stelle überquert, an der dem Vernehmen nach selbst Ziegen nicht mehr weiterkamen. Seither wurden Vasil und Bogdan von Tsoulas, der als Einziger das nötige Geld hatte, um ihre Fertigkeiten zu nutzen, wie Vieh behandelt. Ihr Lohn reichte mit knapper Not für Lebensmittel und Zigaretten. Zum Ausgleich durften sie sich das Motorrad des Weinhändlers ausleihen, ein ehemaliges Militärfahrzeug, mit dem sie Ouzo und Tabak in ihr Heimatland schmuggelten. Ihrer Verzweiflung nach zu urteilen lief der Handel jedoch nicht so schwunghaft wie gewünscht, denn nun wollten die beiden ihr Einkommen mit den Karten erhöhen und verspielten es dabei. Irgendetwas in Jannis schreckte davor zurück, dem Blick dieser Männer zu begegnen – nicht weil sie anders waren, das waren sie abgesehen von Sprache und Zahnpflege nicht, sondern weil es schmerzlich war, das Zügellose in ihren Augen zu sehen. Tsoulas, der gegen Mitleid immun zu sein schien, meinte dagegen, mitgefangen, mitgehangen, das gelte auch, wenn man Bulgare sei, während bárba Pippis keinen Ton über seine Lippen so dünn wie Piniennadeln brachte. Jannis selbst empfand Scham, was ausnahmsweise ein produktives Gefühl war an diesem Morgen, denn es hinderte ihn daran, zu überdenken, was er da eigentlich machte.
    Es war kurz nach fünf. Die Männer spielten seit mittlerweile sechsunddreißig Stunden. Die Luft war metallisch,
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