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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche
Autoren: Aris Fioretos
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Mensch eine Insel, kein Vorgang isoliert war, bildete eine Quelle der Hoffnung, doch ebenso der Verzweiflung. Obwohl Eleni sich über ihre Fortschritte freute, musste sie doch erkennen, dass die Aufgabe, allein die Erinnerung an alle verlorenen Landsleute zu retten, ihre Kräfte überstieg. Nach der Flucht hatten sich ihre Freundinnen in Patras und Piräus, aber auch an so fernen Orten wie Fulda, Toronto und Melbourne niedergelassen. Als sie ihre Fühler ausstreckte, boten einige von ihnen Hilfe an. Ein Tipp führte zum nächsten, ein Hinweis zu einem anderen. Binnen weniger Monate erschufen die Frauen eine mit Gassen, Boulevards und Plätzen ausgestattete Miniaturwelt. Hier und da sah man Baugerüste und an einigen Stellen fehlte noch das eine oder andere Stockwerk, aber davon ließ man sich nicht beirren. Im Laufe eines Sommers mit Weintrauben in Kastaniengröße arbeitete Eleni die Antwortbriefe zu Lexikonartikeln um, die sie zwölfmal kopierte und passend zur Tabakernte bei einer Schneiderin im Nachbardorf binden ließ. Als die Bauern die Felder abflämmten, versandte sie die Schrift in sämtliche Himmelsrichtungen. Es war der erste Teil der Enzyklopädie der Auslandsgriechen , »herausgegeben« in Neochóri im Spätherbst 1928.
    Als die Freundinnen sich in das Ergebnis ihrer mühevollen Arbeit vertieften, entdeckten sie, dass weitere Gestalten darauf warteten, einen Namen und ein Gesicht zu bekommen. Weniger erfreulich war, dass Eleni Verbrieftes und Vermutetes nicht getrennt hatte. Sie erkannten, dass der Traum von einer wiedererschaffenen Gemeinschaft mit all ihren Geheimnissen und Gefühlen für Gebetsrufer sowie Zirkusartisten genau dies bleiben würde: eine Traumwelt. Nicht, weil es ihnen an Hingabe oder Geduld gefehlt hätte, sondern weil die Aufgabe an sich unmöglich war. Die Weigerung, auch nur eine einzige Erinnerung verloren zu geben, drohte das Unterfangen von innen heraus zu sprengen. Wenn ihre Kollegin keine zeitliche Grenze zog, nicht zwischen Gerüchten und Fakten unterschied und es versäumte, die Zeugenaussagen zu überprüfen, würde diese Welt im Laufe der Zeit derart seltsame Proportionen annehmen, dass mehr als ein Atlas erforderlich wäre, um sie zu schultern. Außerdem konnte niemand sicher sein, dass das Erschaffene ein Tempel und kein Müllhaufen war. Nach einem erregten Briefwechsel in den Jahren 1929–30 einigte man sich deshalb auf »neue Spielregeln«, wie Athanassia Osborn in Astoria, New York, die Sache mit amerikanischer Direktheit ausdrückte.
    Vier Jahre später wurde der erste Band nochmals verlegt, diesmal halb so dick, aber doppelt so zuverlässig. Hatten sie zunächst nur Wunschvorstellungen und Phantasien gesammelt, die Griechen aus Smyrna betrafen, gingen die Freundinnen – die sich inzwischen die »Gehilfinnen Clios« nannten − nunmehr dazu über, sich auf Fakten über alle Arten von Landsleuten in der Diaspora zu konzentrieren. Der Smyrniot war trotz allem nur eine von vielen Spielarten dessen, was ein Grieche sein konnte. Das entscheidende Problem waren nicht die breiten Avenuen durch die Geschichte mit ihrem Wirrwarr aus Stichstraßen und Sackgassen, sondern die Hoffnungen, die auf ihnen reisten. »Jeder Grieche«, heißt es in Osborns überarbeitetem Vorwort (man hört die promovierte Ethnologin), »bildet eine Komplikation des Griechischen. Uns spornt keine große Idee an, sondern eine kleine Hoffnung: dass die Ausnahme den Landsmann bestätigt. Alles andere wäre eine Katastrophe, wofür wir in diesem kurzen, grauen Jahrhundert genügend Beispiele gesehen haben.«
    Geduldig nahm man die Gerüchte und Erinnerungen, aus denen ein Mensch in den Gedanken anderer Menschen besteht, unter die Lupe. Wüste Vermutungen und beschönigende Umschreibungen wurden aussortiert, bis ausschließlich solche Informationen übrig blieben, die von unabhängigen Quellen bestätigt wurden. »Die Dichtkunst ist für die Griechen seit jeher Gift gewesen«, erläuterte Doktor Osborn, wenn sie eine unbestätigte Aussage strich. »Lasst uns lieber zu wenig, als zu viel aufnehmen.« Das Material musste gesichert werden, solange die Zeugen noch lebten, denn wenn Leute nicht starben, weil sie Griechen waren, sondern aus anderen Gründen, bestand die Gefahr, dass sich die Erinnerungen nicht bestätigen ließen, so schön oder schmerzlich sie auch erscheinen mochten. Andererseits durfte kein Artikel veröffentlicht werden, bevor der Gegenstand der Aufmerksamkeit das Zeitliche gesegnet hatte,
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