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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche
Autoren: Aris Fioretos
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Schweißes zu riechen. Im Grunde genügte schon ein Bruchteil von all dem, um Lily begreifen zu lassen, dass ihr Besucher Grieche war. Aber es genügte auch, die hilflose Zutraulichkeit in seinem Blick zu sehen.
    »Lily«, sagte sie und gab ihm ihren Ellbogen. Von dem Fleischstück in ihrer Hand tropfte Eigelb herab. »Nenn mich Lily.«
    EIN WAHRES HELDENKINN . Lily Florinos kam nicht umhin, das Grübchen zu bemerken, das die Natur mitten in Jannis’ Kinn plaziert hatte. Da ihr Mann eine ähnliche Vertiefung besaß, wenngleich eine Nummer kleiner, war sie zudem nicht unempfänglich für ihren Charme. »Ein wahres Heldenkinn«, hatte sie gelacht, nachdem sie mit ihm einige Jahre zuvor in ihrer Heimatstadt Wien She Couldn’t Say No mit Robert Mitchum in der Rolle als Doc Sellers gesehen hatte.
    Für Jannis hatte das Grübchen allerdings weniger mit Helden oder Heilkunst, als mit seiner Kindheit zu tun. Zum ersten Mal bewusst wahrgenommen hatte er es im Alter von vier Jahren. An einem Sommertag kurz nach dem Krieg hatte er mit seinem Vater, der von allen außer seiner Familie »Die Hasenscharte« genannt wurde, die Ziegen gehütet. Zum Abend hin saßen sie am fast ausgetrockneten Fluss, unter einem Kastanienbaum, dessen Stamm so ausgehöhlt war, dass sich in ihm ein Kind verstecken konnte. In seinem Inneren sirrten die Mücken. In den Sträuchern und am Ufersaum schepperten die Tiere mit Glocken, die aus Sardinenbüchsen bestanden. Sein Vater schaute sich um. Er hatte beschlossen, die Naht einer alten Posttasche zu flicken, die er geschenkt bekommen hatte. Nun zwirnte er Schilfhalme zu Kordeln. Jannis war in das Studium von Wundschorf vertieft. Nach einiger Zeit begann sein Vater zu summen, und als noch etwas mehr Zeit verstrichen war, sang er ein Lied mit türkischem Einschlag. Es klang traurig und schön. Einige Minuten verstrichen, in denen er das Schilf durch die Löcher im Leder flocht. Dann ging er dazu über, das Geräusch der Zikaden nachzuahmen. Das klang noch schöner und noch trauriger und geschah mit solchem Geschick, dass der Sohn staunte. Laute dieser Art hatte er noch nie aus dem Mund eines Menschen gehört, am allerwenigsten aus dem seines Vaters. Ungläubig betrachtete er ihn. Sein Mund schien auf einmal voller Bogenstriche und Nerven und sonnenbeschienener Aluminiumfolie zu sein.
    Der Junge hob eine Hand an die Lippen. Er fragte sich, was für ein Gefühl es sein mochte, zwei Gesichtshälften zu haben, die schief zusammengewachsen waren, und in der Mitte eine rostfarbene Scharte, die wulstig war wie ein Regenwurm. Als er sein Kinn berührte, schob er den Zeigefinger unwillkürlich in das Grübchen und presste es zwischen Daumen und Mittelfinger zusammen. Unwissentlich formten seine Finger damit die Geste, die der Pfarrer bei seiner Taufe gemacht hatte. Im gleichen Augenblick blickte sein Vater auf. Er sah seinen Sohn an und hörte auf, wie tausend Zikaden zu klingen. Die Stille zwischen ihnen schwoll an.
    Diese drei Nichtigkeiten – der Blick, die Stille, +35° C – reichten aus, um den Vater fremder erscheinen zu lassen, als er war. Jannis fühlte, dass er nicht mehr nur aus harten Händen, einem buschigen Schnäuzer und zwei schiefen Gesichtshälften bestand, sondern auch aus Geheimnissen und Verstecken. Plötzlich war es, als enthielte der Körper Stellen mit einem hohen Gehalt an Lust und Schmerz. Er erkannte, dass sich hinter dem sonnenverbrannten Gesicht eine Welt verbarg, die er bis zu diesem Moment ganz selbstverständlich hingenommen hatte, die er geliebt und mit der er gestritten hatte, die jedoch nie das Interesse in ihm geweckt hatte, sie mit seinen Gedanken zu bewohnen. Verlegen stellte er sich, ohne eine Antwort zu erwarten, zum ersten Mal die Frage: Bin ich mehr als nur ich selbst? Der Vater hörte ihn nicht. Es ist im Übrigen durchaus denkbar, dass er seinen Sohn ausgelacht hätte, wenn er ihn denn gehört hätte. Nicht einmal der Schnurrbart hinderte Jannis daran, in die Mundhöhle zu blicken. Nein, keine Zikaden. Keine einzige. »Das ist alles, was übrig geblieben ist.« Was? Das Grübchen, das der Sohn befingerte. »Irgendwo müssen die Engel ja pissen können.« Mehr wollte der Vater ihm jedoch nicht verraten. »Man weiß nie, wie das mit der Vererbung ist.«
    Jannis’ Vater ahnte, dass ein solches Heldenkinn nur väterlicherseits vererbt wird, sprach dies aber nicht aus. Die Person, die er Vater genannt hatte, besaß nämlich ein glattes Kinn, dessen fliehende Kieferpartie
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