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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche
Autoren: Aris Fioretos
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heißt er Jannis Georgiadis und ist der Sohn eines Bauern aus Áno Potamiá. Das Dorf liegt im Norden Griechenlands, in fußläufiger Entfernung zur bulgarischen Grenze. Bei der letzten Volkszählung, durchgeführt anlässlich der Gründung der Former Yugoslav Republic of Macedonia, bestand die Ortschaft aus 149 Einwohnern mit ordnungsgemäßen Papieren, darunter zwei eingebürgerte Bulgaren. Jannis’ Vater, 1922 aus Smyrna geflohen, war der Sohn des einzigen tauben Gebetsrufers in der Stadt. Letzteres wusste unser Held allerdings nicht. So wenig wie sein Vater oder Großvater, die nach griechischer Sitte ebenfalls den Vornamen Jannis trugen. Wohl aber seine Großmutter, Despina Georgiadis, geborene Bakirikas und Tochter eines Bäckers. Auch sie war 1922 geflohen. Auf einem Fahrrad. Insgeheim gehörte ihr Herz einem gewissen Erol Bulut, zumindest bis zu jenem Abend wenige Jahre vor der Jahrhundertwende, als sich die beiden hinter einer Moschee am Stadtrand trafen und man fast nur Zikaden hörte. Hinter dem Heiligtum geschahen Dinge, auf die wir zurückkommen werden. Kurz darauf wurde Erol religiös und entschied sich für ein Leben ohne Schweine, Schnaps und Frauen – »Griechinnen oder nicht«.
    Wenn diese Herkunft verwirrend klingt, ist sie doch nichts gegen das, was das nächste Jahrhundert Menschen von nicht nur griechischer Abstammung antun sollte. In manchen Nachschlagewerken wird behauptet, das 20. Jahrhundert sei das goldene Zeitalter der Migration gewesen. Mag sein. Aber viel eher müssten die Chronisten von Blei sprechen – diesem kaum weniger fatalen, aber alltäglicheren Material, das in Röntgenschutzwesten, Autobatterien und manchen Arten von Kristallglas enthalten ist. In Rohren und Abgasen. Und in Gewehrkugeln. Das bleierne Zeitalter der Migration: So erscheint das Jahrhundert in unserem Rückspiegel. Dementsprechend wurden die Walachen umstandslos zu Rumänen oder Jugoslawen, von denen sich einige später, allerdings nicht grundlos, in Makedonier verwandelten. Auch in tote Makedonier. Eine Menge Bleikugeln. Oder nehmen Sie die Levantiner. Die meisten begannen als West- oder Südeuropäer, jedenfalls väterlicherseits, endeten jedoch in den Augen fast aller, inklusive ihrer Mütter, als regelrechte Araber. Ganz zu schweigen von dem, was den Galiziern und Zigeunern widerfuhr. Als das Jahrhundert mit diesen Völkern fertig war, blieben nicht einmal mehr ihre Namen. Auch dort jede Menge Bleikugeln. Und Abgase. Die Griechen blieben im Allgemeinen jedoch Griechen. Übrigens wird sich die Verwirrung mit der Zeit legen. Die Erinnerungen und Erinnerungen an Erinnerungen werden weiter Unordnung zwischen den Zeitformen schaffen, aber in welcher Biografie geschieht das nicht? Alle müssen damit leben, dass sich erzählte Geschichte von erlebter Geschichte unterscheidet. Das Wort »Biografie« kommt übrigens aus dem Griechischen und bedeutet »Lebensbeschreibung«.
    Jetzt sind wir gleich fertig mit unserem Prolog. Auch dieses Wort stammt aus dem Griechischen und bedeutet »Vorwort«. So manches im vorliegenden Buch mag einem in diesem Stile ungewohnt erscheinen.
    Dem Pass, den Jannis als Erwachsener in seiner Hemdtasche trug, manchmal auch, nachdem er abgelaufen war, lässt sich entnehmen, dass er Ioannis getauft wurde. Die Schreibweise ergab sich, weil die Schriftsprache von der gesprochenen Sprache abwich. Der Name wurde von Vater Lakis verkündet – einem strengen Geistlichen, dessen Haare im Nacken zu einem Dutt zusammengerollt waren –, und zwar an einem stürmischen Wintervormittag 1943. Unmittelbar darauf drückte er das schreiende Wesen ein drittes Mal in eine Mülltonne, die man saubergeschrubbt und mit Wasser aus dem nahe gelegenen Fluss gefüllt hatte. Der Pate an seiner Seite versuchte die Behandlung abzumildern, aber der Pfarrer lachte nur. »Tut mir leid, Leonidas. Wenn der Junge zu unserem Volk gehören soll, muss er nochmal runter.« Als er das Kind schließlich zur allgemeinen Betrachtung hochhielt, trommelte der Regen auf die Dachziegel. Lächelnd hob er den Blick. »Auch wenn es die Engel zu Tränen rührt.«
    Eine halbe Stunde später verließen die Dorfbewohner auf steinharten boboniéres kauend die Kirche. Einige von ihnen schüttelten den Kopf. Der alte Weinhändler, der Royalist war und die traditionelle Taufe in Schriftsprache vorzog, stöhnte: »Ich traue diesem Pfarrer nicht.« Er spuckte Bröckchen aus Mandeln und kandiertem Zucker aus. »Einmal Kommunist, immer Kommunist.« Der
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