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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche
Autoren: Aris Fioretos
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denn ein Grieche war »noch in letzter Sekunde für eine Überraschung gut«. Sobald der Stoff vorlag, wurde eine Reinschrift angefertigt und in regelmäßigen Abständen, wenn man genügend Geld gesammelt hatte, erschien in der Diaspora Press ein neuer Band.
    Gibt es noch Leser, denen diese fadengebundenen Drucksachen in flexiblen Umschlägen in die Hände gefallen sind? Wenn ja, dann wissen sie, dass die Gehilfinnen gegen allerlei widrige Umstände ankämpfen mussten: Brände, Weltkriege, Schwindsucht, Poesie, vorzeitiges Ableben, Diktaturen … und einiges mehr. Zum Beispiel Blei verschiedener Art – nicht zuletzt die Typen, die für den Satz der Bücher benutzt wurden. Der Briefträger starb, als der sechste Band in Druck gegangen war. Daraufhin erschienen keine weiteren Teile, weil die Doppelwitwe nicht wusste, worum sie mehr trauern sollte: um das Land, das sie hatte verlassen müssen, oder um den wankenden Brückenkopf im neuen. Die Freundinnen schrieben ihr inständig bittende Briefe, jedoch vergebens, und machten nach ein paar Jahren auf eigene Faust weiter. Später sollten Elenis Enkelkinder daran zurückdenken, wie ihre jiajiá nachmittags am Sekretär apathisch über ihren Wintermantel strich und sich nicht sicher war, ob sie die Zeit oder die Zeit sie überlebt hatte. Manchmal ging Kostas – benannt nach seinem Großvater mütterlicherseits und Autor der folgenden Seiten – zu ihr, vor allem als er älter wurde und sich in der Schule unterfordert fühlte. Dann nahm Eleni, die eigentlich nur seine Stiefgroßmutter war, ihn mit in eine Vergangenheit, die ihrer Ansicht nach ebenso die seine war wie die ihre. Sie erzählte von Trauer und Verwirrung, sie schilderte Jubel und Staunen, und sie fragte, ob ein Grieche wohl jemals »diesejämmerliche Sache« loswerden würde. Als ihr Enkelkind später das Land verließ, nahm sie die Arbeit schließlich doch wieder auf. Kurz darauf starb sie.
    Ich habe mich so ausführlich bei dieser Vorgeschichte aufgehalten, weil ich glaube, dass sie zur Erhellung von Kezdoglous Supplement beiträgt. Nachdem seine Frau Agneta am 28. Dezember des Vorjahrs an Brustkrebs gestorben war, muss er gespürt haben, dass auch seine Lebensuhr ablief. Mag sein, dass er kein ganzes Leben schildert. Trotzdem enthält der Kiefernholzkasten ein einzigartiges Schicksal, dargestellt anhand weniger, aber prägender, auf mehrere Generationen verteilter Ereignisse. Wenn er über eine andere Person berichtet, heißt dies allerdings noch lange nicht, dass er deshalb unparteiisch ist. Jedenfalls kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er sich im Porträt seines Helden spiegelt, obwohl ein Historiker eigentlich als Erstes lernen sollte, einen angemessenen Abstand zu seinem Gegenstand zu halten.
    Kezdoglou scheint sich die Sichtweise des Porträtierten zu eigen gemacht zu haben: Menschen bestehen aus anderen Menschen. Der einzige Weg, ihnen gerecht zu werden, liegt darin, sich nicht auf die nackten Tatsachen und ein Futteral aus Haut, Knochen und ein paar inneren Organen zu beschränken. Sein Vorsatz erscheint sympathisch, lässt aber auch Zweifel aufkommen. Warum gibt er die dichterischen Freiheiten nicht zu? Warum lässt er die Lebensbeschreibung zwischen Fakt und Vermutung changieren, ohne zu sagen, worum es sich jeweils handelt? An einer Stelle behauptet er, seine Angaben basierten auf Zeitungsausschnitten oder persönlichen Gesprächen, trotzdem verbirgt er seine Quellen hinter Pseudonymen und behandelt Betrachtungen, die nicht auf Gewährsleute zurückgeführt werden, als Zugeständnisse an das menschliche Bedürfnis nach Lokalkolorit. Ein anderes Mal lehnt er sich an eine Wand aus Vermutungen. Dialoge sind mit Vorsicht zu genießen, und nur weil er von sich in der dritten Person spricht – wahrscheinlich, um den neutralen Ton eines Nachschlagewerks nachzuahmen –, verschwindet die persönliche Gestaltung doch nicht. Das Arrangement mit den Karteikarten deutet sogar an, dass Kezdoglou sich, vermutlich aus Unzufriedenheit mit dem kärglichen Proviant des Lebens (den Fakten), die Freiheit genommen hat, eine romanähnliche Handlung zu erschaffen. Denn welchen Sinn sollen die Passagen über Eiskunstlauf und Krocket sonst haben, um nur zwei Dinge zu nennen, an denen die Hauptperson ein unkompliziertes Vergnügen fand, deren lose Enden jedoch zu einem Faden verwoben werden, dessen Farbe, wie das Buch uns glauben lassen will, die gleiche ist wie die einer Falte in einem Handteller?
    Es ist
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