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Nervenflattern

Nervenflattern

Titel: Nervenflattern
Autoren: M Gibert
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1
    Donnerstag, 15. Februar 2007
     
    Ayse Bilicin schwitzte. Die türkische Mitarbeiterin der Reinigungsfirma Cleanfix, die seit der Eröffnung des Ladencenters vor einigen Jahren immer den gleichen Bereich des City-Point in Kassel putzte, konnte sich nur noch schwer auf ihre Arbeit konzentrieren. Vor einer Stunde hatte es angefangen, mit Kopfschmerzen, die immer schlimmer wurden. Sie wischte mit einem Lappen über das Treppengeländer im dritten Stock, aber es war mehr ein Festhalten als koordiniertes Arbeiten. Tief unten sah sie eine Kollegin im grauen Kittel winken, wer es aber genau war, konnte sie nicht erkennen.
     
    Ayse hatte öfter Kreislaufprobleme. Die Wechseljahre, hatte ihre Ärztin gesagt und geraten, abends mal ein Glas Sekt zu trinken, und ihr Hormone verschrieben. Aber so wie heute war es noch nie gewesen, und langsam wurde sie panisch. Ihr wurde in Wellen übel und sie hatte das Gefühl, sich dauernd übergeben zu müssen. Das ganze Gesicht der 52-jährigen Frau war nass von Schweiß, Speichel, Tränenflüssigkeit und Nasensekret. Als sie sich erbrach, empfand sie für einen kurzen Moment so etwas wie Erleichterung. Sie kniete sich hin, um ihr Erbrochenes aufzuwischen, hatte jedoch keine Erinnerung, wie sie es machen sollte. Mit der einen Hand zog sie sich wieder am Geländer hoch und wollte in Richtung der Rolltreppe gehen, aber die Beine gehorchten ihr nicht. Mühsam hielt sie sich fest und wollte um Hilfe rufen, aber es kam kein Laut aus ihrer Kehle. Das Atmen fiel ihr immer schwerer, weil ein unsichtbarer Ring ihre Brust umklammert hielt. Auf dem Boden mischten sich ihre Exkremente mit dem Erbrochenen, doch davon bemerkte sie nichts. Sie sah in den erleuchteten Nachthimmel außerhalb des Glasdaches, sah die Schneeflocken, die vom Wind umhergetrieben wurden, verstand aber nicht, was dort draußen passierte.
     
    Verschwommen erinnerte sie sich, dass vor langer Zeit einmal jemand von unten hoch gewunken hatte. Sie beugte sich über das Geländer und sah nach unten, konnte jedoch nichts erkennen. Alles war bunt, surreal, wie ein Gemälde ohne Struktur. Sie beugte sich ein weiteres Stück nach vorne. Das Edelstahlgeländer bog sich unter ihrem Gewicht leicht durch. Ihre Füße verloren den Bodenhalt, traten gegen die Glasscheibe, die zwischen Boden und Geländer eingelassen war, und fielen zurück. Sie machte eine weitere unkoordinierte Bewegung, hob erneut vom Boden ab und hatte diesmal so viel Schwung, dass sie über das Geländer getragen wurde. Zwei Sekunden später war Ayse Bilicin tot.
     
     

2
    Dienstag, 15. Mai 2007
     
    Es waren die ersten wirklich schönen Tage des Jahres in Kassel. Mitte Mai. Der Winter hatte sich endlos hingezogen und der Frühling endlos auf sich warten lassen. Schnee von gestern. Heute zeigten die Mädchen freie Bauchnabel und die Jungs trugen ärmellose Shirts. Seit ein paar Tagen standen Stühle und Tische vor den Cafés, die Menschen saßen in der Sonne und sahen glücklich aus.
     
    Der Regionalexpress aus Frankfurt schlingerte über die letzten Weichen vor dem Hauptbahnhof und kam eine Minute später mit leise singenden Bremsen zum Stehen. Eine Lautsprecherstimme verkündete den Ankommenden, dass sie nun Kassel erreicht hätten, der Zug hier enden würde und in welche Richtung sich Umsteigemöglichkeiten anboten. Viele waren es nicht.
     
    Paul Lenz, der Leiter von K11 (Gewalt-, Brand- und Waffendelikte) des Polizeipräsidiums Nordhessen in Kassel, blieb noch einen Moment sitzen. Dann reckte er sich, stand auf und griff nach seinem Rollkoffer. Als er den Bahnsteig betrat, fing er sofort an zu schwitzen, zog das Jackett aus, das er wegen der Klimaanlage im Zug anbehalten hatte, und machte sich auf den Weg. Er ging zum Nebenausgang gegenüber dem Polizeipräsidium und überquerte die Straße. Der Rollkoffer holperte über das Kopfsteinpflaster und der Inhalt wurde wieder mal durcheinandergemischt, was Lenz ziemlich egal war.
    »Guten Tag, Herr Hauptkommissar«, begrüßte ihn der Uniformierte am Eingang.
    Lenz winkte mit der freien linken Hand, grüßte zurück, schnappte den Koffer am Handgriff und ging ein Stockwerk tiefer zu seinem Büro. Dort stellte er das Gepäck ab, schloss die Tür, setzte sich und legte die Füße hoch. Als er mit dem Stuhl eine bequeme Position gefunden hatte, verschränkte er noch die Arme hinter dem Kopf. 10 Sekunden später war er eingeschlafen.
     
    32 Stunden zuvor war er in Frankfurt aufgestanden. Dort war er zu einer
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