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Der letzte Engel (German Edition)

Der letzte Engel (German Edition)

Titel: Der letzte Engel (German Edition)
Autoren: Zoran Drvenkar
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Sinn.
    »Kannst du denn nichts tun?«, fragte Rike. »Kann er nicht dein Blut trinken oder so?«
    Esko legte seine Hand neben die von Lars auf meine Brust und sah mir einfach nur ins Gesicht.
    »Mensch, Esko, tu was!«, drängelte jetzt auch Lars.
    Der Engel wusste genau, was zu tun war, aber er scheute sich davor. Er war auf alles vorbereitet gewesen, aber er hatte nicht erwartet, mich ohne Flügel anzutreffen. Das änderte die Situation. Ich war nicht mehr. Wir beiden ergaben schon ein prima Team. Zwei Engel ohne Flügel. Hätte man uns damals im Eis gefunden, hätte man sich nicht die Mühe gemacht, uns aufzutauen.
    Esko traf eine Entscheidung.
    »Hol den Raben«, sagte er zu Lars.
    »Was?!«
    »Hol den Raben aus dem Kofferraum.«
    Mein bester Kumpel rannte los. Esko sagte zu Rike:
    »Ich brauche ein Messer oder irgendwas Scharfes.«
    Rike ging zu einem benachbarten Grab, nahm eine Vase und kippte die Blumen und das Wasser auf die Erde, dann zerschlug sie die Vase an einem Grabstein und kehrte mit der größten Scherbe zu Esko zurück. Lars hatte in der Zwischenzeit den Raben aus dem Kofferraum geholt und kam mit ihm quer über den Friedhof gerannt.
    »Er atmet noch immer«, sagte er.
    Esko nahm den Vogel und legte ihn neben meinen Körper ins Gras. Die Spannweite der Flügel war unglaublich. Als würde man eine Decke aus Federn ausbreiten. Der Rabe klappte das linke Auge für einen Moment auf, sah in den Himmel und klappte es wieder zu. Anscheinend heilten Vögel aus der Vergangenheit nicht so schnell wie Engel.
    »Es tut mir leid«, sagte Esko zum Raben.
    Zu Rike und Lars sagte er, dass sie sich links und rechts auf die Flügel knien sollten.
    Der Rabe zuckte zusammen, als die Glasscherbe eindrang.
    Esko öffnete ihm die Brust mit einem geraden Schnitt und bat Lars, den Brustkorb mit den Händen auseinanderzuhalten. Ich bin mir sicher, das war mit Abstand der ekligste Moment im Leben meines Kumpels. Aber er rannte nicht weg und er wurde auch nicht ohnmächtig.
    Esko beugte sich über den Vogel und schaute in den klaffenden Schnitt. Die Finger seiner rechten Hand verschwanden im Brustkorb, und langsam, sehr langsam zog er ein silbernes Glänzen hervor. Es war kaum größer als eine offene Hand und bewegte sich zwischen den blutigen Fingern, als hätte es ein Eigenleben.
    Esko umschloss es mit beiden Händen.
    »Öffne seinen Mund«, sagte er.
    Rike kniete sich hinter meinen Kopf und umfasste mein Kinn. Esko behandelte das silberne Glänzen wie eine Flüssigkeit und ließ sie zwischen meine Lippen fließen. Lars sagte, er müsse jetzt aber mal wirklich kotzen. Für Sekunden verharrte das Glänzen in meinem Mund, als würde es sich orientieren, dann spürte ich es durch meine Luftröhre nach unten wandern.
    »Das war es«, sagte Esko.
    Rike ließ meinen Kopf los, mein Mund schloss sich, Lars wischte sich die blutigen Hände an seiner Hose ab, Esko runzelte die Stirn. Nichts geschah. Ich lag da und nichts geschah. Rike begann zu weinen, Lars fragte mich, warum ich nicht zurückkommen wollte, und da erreichte meine Seele endlich ihr Ziel und wurde wieder ein Teil von mir. Die Leere in meinem Inneren verschwand und ich setzte mich auf und schnappte laut nach Luft.
    Alles kehrte in diesem Moment zum Anfang zurück.
    Ich sah die Gesichter meiner Freunde, ich sah den Engel, aus dessen DNA man mich erschaffen hatte, und dann konnte ich es nicht mehr zurückhalten, der Druck in meiner Lunge war zu groß – ich atmete aus. Mein erster Atemzug war erschöpft und klein und fast nichtig, dennoch machte er sich sofort auf die Reise.
    Und so endete alles an diesem Tag.
    Und so nahm es seinen Anfang.
    Ich schaue auf diese Zeit zurück, wie ich auf ein altes Fotoalbum schauen würde. Eine Menge Bilder, eine Menge Erinnerung und nichts davon ist umkehrbar zu machen. Da, wo ich jetzt bin, hat nichts mit dem Damals zu tun. Jetzt weiß ich, dass der Rabe in der Nacht gekommen ist und sich meine Seele geholt hat, um mich vor Lazar zu retten. Jetzt weiß ich, dass Eskos Plan einfach gewesen war – töte Motte, bevor ihn ein anderer tötet, und dann rette Motte wieder. Der Rabe hatte meine Seele sicher verwahrt. Es war ein guter Plan, ich war in Sicherheit, denn ich war seelenlos und dadurch auf eine absonderliche Weise unberührbar. Ein ungeborenes Riesenbaby, das ahnungslos durch das Leben taumelt. Feuer, Tod und Hölle konnten mir nichts anhaben, der einzige Schwachpunkt waren meine Flügel. Esko hatte nicht alles bedacht. Wie
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