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Blinde Voegel

Blinde Voegel

Titel: Blinde Voegel
Autoren: Ursula Poznanski
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    Prolog
    D unkel. Eng. Keine Luft. Jede Unebenheit der Straße ein Schlag.
    Der Knebel in ihrem Mund ließ sich nicht mit der Zunge verschieben, die Nase war vom Weinen zugeschwollen.
    An sie gepresst lag der Dicke. Wimmerte. Sie fühlte das Zucken seiner gefesselten Hände. Vielleicht würden sie sich mit ihm begnügen. Im Gegensatz zu ihm war sie schnell, konnte rennen.
    Sie sog Luft durch die verstopften Nasenlöcher, mit aller Kraft.
Ein weißes Schloß in weißer Einsamkeit.
    Ohne dass sie es wollte, spulte ihr Hirn die Worte ein weiteres Mal ab.
In blanken Sälen schleichen leise Schauer.
Todkrank krallt das Gerank sich an die Mauer,
und alle Wege weltwärts sind verschneit.
    Er war nackt gewesen, als er es ihr das erste Mal gezeigt hatte, und sie hatte nackt neben ihm gelegen. Voller Glück.
    Sie presste die Lider aufeinander, versuchte, zu diesem Moment zurückzukehren. Die Zeit zu überwinden, die Monate, die vergangen waren, auszulöschen. «Düster», hatte sie gesagt. «Ein weißes Schloss, wie kann das so düster sein?»
    «Die wahre Dunkelheit kommt von innen», hatte er geantwortet. «Und sie ist wie Krebs. Frisst sich weiter, weißt du? Durch alles, nach und nach. Schwarze Metastasen.»
    Sie war ein Stück von ihm abgerückt, um ihm ins Gesicht sehen zu können, und war erstaunt gewesen, dass er lächelte.
    Sein Vergleich hatte einen Schatten auf ihren Tag geworfen. Aber jetzt wünschte sie sich, vielleicht eines Tages an Krebs sterben zu können. In dreißig, in fünfzig Jahren. Ein Tod im richtigen Alter, bitte. Nicht heute, nicht jetzt, nicht!
In blanken Sälen schleichen leise Schauer.
Todkrank krallt das Gerank sich an die Mauer.
    Zwischen ihren Fingern fühlte sie das Papier, das sie wie eine Rettungsleine mit ihm verband. Es war sein Drucker gewesen, der es ratternd ausgespuckt hatte.
Und alle Wege weltwärts sind verschneit.
    Kaltes Beben überlief sie, trotz der stickigen Enge neben dem Dicken, der nach Angst stank.
    Vorne wurde gesprochen. Einer der Männer klang angespannt, der andere lachte.
    Holpern. Sie gab sich Mühe, den Kopf zu heben, damit er nicht bei jeder Unebenheit gegen den Boden des Kofferraums schlug.

    Darüber hängt der Himmel brach und breit. Ihr Hirn spuckte immer weitere Verse aus. Sie klammerte sich an sie wie an ein Gebet.
Es blinkt das Schloß. Und längs den weißen Wänden
hilft sich die Sehnsucht fort mit irren Händen.
Die Uhren stehn im Schloß: es starb die Zeit.
    «Ich kenne das Gefühl», hatte er gesagt, und seine Hand war über ihre Wirbelsäule geglitten, auf und ab, ab und auf. «Kennst du es auch?»
    «Nein», hatte sie geantwortet, aber jetzt begriff sie es, oh Gott, und wie. Die Zeit war tot und blähte sich auf wie ein verwesender Leib. Jede Sekunde war quälend lang und verging gleichzeitig viel zu schnell, jede weitere führte näher an den Moment heran, der nicht kommen durfte …
und längs den weißen Wänden
hilft sich die Sehnsucht fort mit irren Händen –
    Dann hielt der Wagen. Eine Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen. Einer der Männer sagte etwas, das sie nicht verstand.
    In blanken Sälen schleichen leise Schauer, leise Schauer, leise Schauer  … die Worte fraßen sich in ihr Hirn und erstickten alle Gedanken. Der Dicke gab hinter seinem Knebel gurgelnde Geräusche von sich.
    Todkrank krallt das Geränk sich an die Mauer.
    Schritte, die näher kamen. Metallisches Klimpern. Zwei kurze, hohe Töne. Entsperrung.
    Die Heckklappe öffnete sich.
Und alle Wege weltwärts sind verschneit.

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    Kapitel eins
    D er Tisch war gedeckt, die Gläser poliert, sogar die Wassergläser. Beatrice sah nach dem Truthahn im Rohr und kämpfte gegen das völlig unpassende Gefühl an, ein Date vor sich zu haben. So war es nicht, ganz im Gegenteil, trotzdem wollte sie unbedingt noch duschen und sich umziehen, bevor sie den Tisch deckte.
    Ein Date, was für ein Wort. Als wäre sie siebzehn und nicht sechsunddreißig.
    Sie schüttelte über sich selbst den Kopf, drehte die Temperatur des Ofens hinunter und stieg aus ihren Jeans. Fünfzehn Minuten noch, das würde reichen. Mit etwas Glück fanden sie nicht gleich einen Parkplatz, dann hätte sie sogar noch Zeit genug, um sich ein gelöstes Lächeln ins Gesicht zu trimmen.
    Sie duschte schnell und heiß, föhnte ihr Haar halb trocken und schlüpfte in ein hellblaues Sommerkleid, über das sie eine Schürze band, bevor sie die Teller auflegte und den Truthahn aus
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