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Der letzte Engel (German Edition)

Der letzte Engel (German Edition)

Titel: Der letzte Engel (German Edition)
Autoren: Zoran Drvenkar
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auf den Steintisch.
    Mona greift nach seinen Händen. Esko spürt ihre kühlen Finger zwischen seinen. Ein Lastwagen donnert vorbei, und weit entfernt erklingt eine Schiffshupe, der eine andere Schiffshupe antwortet. Esko atmet tief durch, schließt die Augen und entspannt sich.
    Und plötzlich ist es still um ihn herum.
    Kein Wind weht mehr, nur ein sanftes Pochen ist zu hören, als würde jemand mit den Fingerspitzen auf Samt klopfen. Esko öffnet die Augen. Das Pochen sind Schneeflocken, die schwer und satt vom Himmel fallen und ein Brennen hinterlassen, wo sie auf seine Wunden treffen.
    Esko sitzt nicht mehr auf dem Rastplatz, auch trägt er keine Uniform mehr und der Steintisch ist ebenfalls verschwunden. Esko liegt auf dem Rücken, Frostnebel umfließt ihn träge und sein ganzer Körper besteht nur aus Schmerzen. Wenn er etwas nicht vermisst hat, dann sind es diese Schmerzen. Sein Brustschutz ist zerfetzt, der Verband um sein Handgelenk hat sich gelöst. Vorsichtig setzt er sich auf und sieht Schatten, die sich zwischen den Schneeflocken bewegen.
    Esko fühlt sich beobachtet.
    Fünfzig Meter entfernt steht eine Gestalt. Der Nebel lässt sie verschwinden und dann ist sie wieder da. Es könnte das Ende oder der Anfang eines Tages sein. Das Dämmerlicht verrät nichts. Es ist so kalt, dass die Luft in den Lungen sticht. Esko spürt die Kälte durch den Boden. Es ist Jahre her, seitdem die Erde hier aufgetaut ist. Als hätte die Sonne das Sterben satt und sich abgewandt. Esko sieht auf seine Finger, die mit Eiskristallen bedeckt sind. Er muss schon eine Weile hier liegen, die Körper um ihn herum sind in grotesken Posen erstarrt. Sie liegen überall – vereinzelt ragen Arme und Beine wie Markierungen nach oben, dazwischen sieht Esko abgebrochene Speere, gehisste Fahnen und immer wieder erstaunte, offene Münder.
    Die Welt ist mit Eis bedeckt, die Meere liegen schweigend da, kein Fisch wagt sich an die Oberfläche. Irgendwo hinter den Wolken muss die Sonne sein, auf der Erde merkt man nichts davon, der Winter ist der alleinige Herrscher.
    Zumindest ist er gnädig zu den Toten, denkt Esko.
    Der Schneefall verbirgt die Leichen unter einem weißen Mantel, auch der Gestank von Blut, zerfetztem Fleisch und Eingeweiden ist von der Kälte eingeschlossen. Nichts rührt sich in dieser Landschaft, auch die Gestalt steht reglos da und beobachtet Esko weiter. Er hört sie atmen und hat längst begriffen, wo er sich befindet.
    Ich bin wieder hier, denkt er und richtet sich mühevoll auf und steht schwankend im eisigen Wind. Sein Knie schmerzt, und da ist ein Schnitt an seiner Hüfte, der sich durch die Bewegung wieder öffnet. Er hebt eine Lanze vom Boden auf und stützt sich ab. Es ist das Ende aller Tage, und er ist ein Gast in seiner eigenen Erinnerung und bedauert es sehr, noch am Leben zu sein.
    Und dann kommen die Raben.
    Sie gleiten lautlos durch den Schneefall und zerteilen das Weiß mit ihren Flügeln. Genauso lautlos lassen sie sich auf seinen Brüdern nieder, zerren und ziehen an ihren Körpern, um sie in die richtige Position zu bringen.
    Zwanzig Schritte entfernt liegt Micah. Er hat beide Hände um einen Axtgriff geklammert, der aus seiner Brust emporragt wie ein dritter Arm. Sein rechtes Auge fehlt, das linke ist nach oben verdreht, sodass nur das Weiß zu sehen ist. Den Raben interessieren die Augen nicht. Er balanciert auf Micahs Stirn und öffnet seinen Mund mit dem Schnabel. Esko hört das schnalzende Geräusch, als sich die Lippen trennen. Der Schnabel taucht ein, es gibt einen Ruck und als der Rabe den Kopf wieder hebt, zieht er ein silbernes Glänzen hervor, kaum größer als eine offene Hand.
    Alles kehrt zum Anfang zurück, denkt Esko.
    Der Rabe schlägt mit den Flügeln, das Schneetreiben umschließt ihn und er verschwindet darin mit der glänzenden Seele in seinem Schnabel. Esko wünscht sich, jemand würde ein Totenlied anstimmen oder dass die Witwen kommen und Tücher der Vergebung über den Leichen ausbreiten. Wohin er auch schaut, das Feld der Toten reicht bis zum Horizont, und mittendrin steht diese Gestalt und senkt den Kopf und stößt ein Schnauben aus.
    Esko macht sich auf den Weg zu ihr.
    Als er das Pferd erreicht, weicht es nicht zurück. Das Fell hat auf die Entfernung hin schwarz geglänzt. Esko kann jetzt sehen, dass das kristallisierte Blut dem Hengst bis zu den Schultern reicht. Eine abgeschlagene Hand hat sich in den Zügeln verfangen. Die Finger liegen auf dem Brustkasten, als wollten
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