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Der letzte Engel (German Edition)

Der letzte Engel (German Edition)

Titel: Der letzte Engel (German Edition)
Autoren: Zoran Drvenkar
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sie das Tier beruhigen.
    »Still«, sagt Esko und streicht über die Flanke des Pferdes, tastet sich vor und spürt den nervösen Herzschlag. Er sieht keine Verletzungen, es ist ein kleines Wunder. Als Esko die Zügel ergreift, stellt der Hengst die Ohren auf und fixiert ihn mit dem linken Auge. Die abgeschlagene Hand löst sich und fällt herunter. Die Tätowierungen gehen bis zu den Fingerspitzen und sind so strahlend weiß, dass sie im Schnee zu leuchten scheinen. Esko lehnt sich gegen das Pferd und sammelt seine Kräfte, ehe er sich in den Sattel schwingt.
    Der Hengst rührt sich noch immer nicht. Stille umgibt sie.
    Da ist der fallende Schnee, da sind die Toten und da sind die lautlosen Raben.
    Wie anders sah es hier vor fünf Tagen aus – vierzigtausend Krieger sind an Land gegangen und haben ihre Lager aufgeschlagen. Eine Entscheidung stand bevor. Sie sind über zwei Meere gereist, um der Plage ein Ende zu bereiten. Und das hier ist das Ergebnis.
    Der Hengst schreitet vorsichtig voran, seine Hufen dringen durch Kleidung und Körper. Knochen knacken, Rüstungen verbiegen sich und brechen auf. Nach zwanzig Metern hat der Hengst seine Scheu überwunden und kommt in Trab.
    Sie reiten auf den Berg zu, auf dem sich der Großteil der Raben niedergelassen hat. Das Feld der Toten gleitet unter ihnen dahin – das Grün der Elsener, das stolze Blau der Panden, das Graurot des Südstammes. So viele Völker haben ihre Armeen geschickt.
    Und dazwischen immer wieder das strahlende Weiß der Menianer.
    Es ist die unpassendste Farbe, die sich ein Feind wählen kann. Sie leuchtet aus dem Schnee hervor wie Pfützen aus Licht. Esko schmeckt den bitteren Geschmack der Wut und spuckt aus.
    Anfangs steigen die Raben noch auf, als er sich ihnen nähert, und zeigen die seidig glänzende Unterseite ihrer Flügel. Bald schon gewöhnen sie sich an den Reiter und sein Pferd. Mehr wollte Esko nicht.
    Am Fuß des Berges scheut der Hengst, wird langsamer und hält an. Esko hätte es nie alleine so weit geschafft. Er steigt ab und lässt das Tier stehen.
    Der Anstieg ist steil, der Schmerz in seiner Hüfte nimmt ihm den Atem. Die Enden seiner Flügel schleifen über den Boden, die Spitzen verfärben sich zu einem dreckigen Braun. Esko ist kein edler Anblick – Blut fließt seine Hüfte herunter und sein rechter Stiefel hat sich mit klebriger Wärme gefüllt. Obwohl seine Kräfte mit jedem Schritt nachlassen, bleibt er erst stehen, als er den Gipfel erreicht hat.
    Auch hier oben sind die Toten, auch hier oben bewegt sich nichts außer dem stummen Gleiten der Raben. Für eine Weile verharrt Esko und fragt sich, wie es nur so weit kommen konnte. Er weiß, dass er in drei Tagen hier oben sterben wird. So hat es ihm Mona zumindest gesagt. Die Erinnerung lässt sich nicht verändern. Sie ist das, was gewesen ist. Müde sieht er auf das Tal und die erstarrte Ebene der Toten herunter. Ihm fehlt Licht, alles ist in Frostnebel und Schatten gebadet. Dazu dieser trübe Schneefall, der nicht wirklich weiß ist.
    Esko schaut hoch. Er könnte aufsteigen und die Wolkenfront durchbrechen, doch in seinem Zustand traut er sich das nicht zu. Außerdem ist er nicht hier, um für Licht zu sorgen.
    Er schafft sich Platz zwischen den Leichen und legt sich nieder. Er schließt die Augen und ist still und geduldig. Er ist einer der Toten. Die Raben lassen ihn nicht lange warten. Das Rauschen, der Wind, ein Geruch von vergessenen Dingen. Ein Rabe landet auf seinem Kopf. Esko spürt die Krallen in seinem Haar. Da ist auch schon das tastende Suchen des Schnabels zwischen seinen Lippen.
    Genug ist genug, denkt Esko und öffnet die Augen.
    Er sieht auf die Unterseite der Kehle. Der Rabe spürt, dass irgendwas anders ist. Er neigt den Kopf zur Seite und schaut mit einem Auge zu Esko runter.
    »Esko?«
    Eine Hand legt sich auf seine Wange. Mona ist ihm so nahe, dass er ein wenig zurückschreckt. Das Auge des Raben ist verschwunden. Esko liegt nicht mehr auf dem Hügel, er sitzt wieder am Steintisch. Die Wellen bewegen sich über den Kiesstrand. In der Ferne verklingt eine Schiffshupe. Das Handy zeigt noch immer 23:57. Es sind nur eine Handvoll Sekunden vergangen.
    »Hat es funktioniert?«
    Esko spricht so leise, als könnte er die Realität mit lauten Worten stören. Mona sieht zur Seite. Der Rabe ist die Geduld in Person. Er steht am Ende der Tischplatte und sieht Esko vorwurfsvoll an. Eine Pfütze hat sich unter ihm gebildet, sein Gefieder ist noch nass vom
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