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Der letzte Engel (German Edition)

Der letzte Engel (German Edition)

Titel: Der letzte Engel (German Edition)
Autoren: Zoran Drvenkar
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sollte er auch ahnen, dass es eine Familie gab, die dringend ein paar Flügel brauchte?
    Die alten Damen ließen mich nicht unwissend gehen. Nachdem mir Kolja mit der Heckenschere die Flügel abgeschnitten hatte und ich im Gras lag und vor Schmerzen nicht wusste, wohin mit mir, sagten sie:
    »Du bist zwar nicht das, was wir erwartet haben, aber du erfüllst deinen Zweck. Sieh dich an, du hast so viel Potenzial in dir und weißt nichts davon. Dabei bist du der Engel, der aus der Dunkelheit des Todes geboren wurde. Dabei bist du der Engel, der den Lebenshauch in sich trägt.«
    » ICH ATME NICHT !«, schrie ich sie an.
    »Noch nicht«, sagten sie. »Noch nicht, aber es steht geschrieben: In seiner Brust wird eine Leere hausen, die nur ein anderer Engel füllen kann. Du verstehst, dass wir damals über dich geschrieben haben, ohne zu wissen, wer du bist, Motte? Du verstehst, was das bedeutet?«
    Natürlich verstand ich es nicht. Also sagten sie es mir. Und so erfuhr ich von der Prophezeiung, und sie verrieten mir auch, was geschehen würde, sobald ich meinen ersten Atemzug tat:
    »Mir dir beginnt alles und mit dir endet alles. Und bis es so weit ist, begnügen wir uns mit deinen Flügeln. Sie sind ein Geschenk des Himmels.«
    Mit diesen Worten hoben die alten Damen meine Flügel auf und liebkosten sie und verschmierten dabei Blut auf ihre schwarzen Kleider, aber das störte sie nicht wirklich. Und ich konnte nichts tun, ich war sogar über die Schmerzen hinweg und lag nur noch zitternd auf dem Gras und wurde mit jeder Sekunde ruhiger. Die Lichter in meinem Kopf verlöschten eines nach dem anderen, die Gedanken verirrten sich, der Blick wurde starr. Erst verlor ich meine Seele, dann meine Flügel, und jetzt gab es nichts mehr, was mich an dieser Existenz hier hielt.
    Ich war dabei, ein zweites Mal zu sterben.
    »Was soll ich mit ihm tun?«, hörte ich Kolja sagen.
    Die alten Damen waren dafür, mich einfach liegen zu lassen, damit der Engel nicht lange nach mir suchen musste. Kolja sprach sich dagegen aus.
    »Es wäre dumm, wenn jemand anderes seine Leiche hier entdeckt. Jetzt, wo er wieder sichtbar ist.«
    Die alten Damen gaben ihm recht, das hatten sie nicht bedacht. Ein toter Junge in Shorts und mit blutigem Rücken hat nichts auf einem Friedhof verloren.
    »Er gehört unter die Erde«, sagte Pia.
    »Lass den Engel nach ihm suchen«, sagte Natascha.
    Da hob Kolja mich auf, trat zwei Schritte vor und ließ mich auf meinen Sarg fallen. Ich spürte nicht einmal den Aufschlag.
    Und da lag ich und hörte auf zu sein.
    Und da oben standen die alten Damen und jede von ihnen hielt einen meiner Flügel in den Armen. Sie sagten:
    »Wir setzen auf das Mitgefühl eines Engels.«
    Und sie sagten:
    »Und du musst uns nicht einmal dafür danken.«
    Danach kam der Minibagger angefahren und hat mich beerdigt.
    Und dann kamen meine Freunde und schenkten mir die Freiheit.
    Lars umarmte mich, Rike umarmte mich, Esko hielt sich seine wunde Seite und grinste. Ich schüttelte meine Freunde ab. Ich war so wütend, dass ich schreien wollte.
    »Was habt ihr getan!«
    Sie sahen mich an, als hätte ich in einer fremden Sprache gesprochen.
    »Es ist eine Falle«, sagte ich. »Sie wollten, dass ihr mich zurückholt, versteht ihr nicht? Sie wollten, dass ihr mich rettet.«
    Sie starrten mich ungläubig an, und ich saß auf dem Boden und konnte nicht glauben, dass sie es nicht hörten. Das Scharren, das Rascheln, die Bewegungen in der Dunkelheit.
    »Hört ihr sie denn nicht kommen?«, fragte ich.
    Lars legte den Kopf schräg, Rike runzelte die Stirn und lauschte, Esko hörte sie als Erster. Ich konnte es an seinem erschrockenen Gesicht ablesen. Er hörte ihr Erwachen, er hörte ihre Bewegungen. Noch waren sie zu schwach, noch waren sie verloren und verwirrt, und wer weiß, ob sie jemals genug Kraft entwickeln würden, um ans Tageslicht zu kommen. Eskos Gesicht fror ein. Die alten Damen hatten auf das Mitgefühl eines Engels gesetzt und der Engel war ihnen in die Falle gegangen.
    »Was … Was ist das?«, fragte Rike.
    Es war ein Rumoren, es war ein Beben, der Friedhofsboden zitterte leicht. Mein erster Atemzug war frei und auf Wanderschaft und zog mit dem Wind um die Häuser und kroch unter die Erde und suchte sich einen Weg durch Ritzen und Spalten. »Mit dem letzten Atemzug verlöscht die Flamme, mit dem ersten wird sie wieder entfacht«, hatten die alten Damen gesagt. Mein erster Atemzug wanderte wie ein Virus um die Welt und war dabei, die
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