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Der letzte Engel (German Edition)

Der letzte Engel (German Edition)

Titel: Der letzte Engel (German Edition)
Autoren: Zoran Drvenkar
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fragte Rike und sah sich um. »Seht ihr ihn?«
    »Ich jedenfalls nicht«, sagte Lars.
    Auch Esko schaute sich um.
    »Lars, wo hat er gestanden?«
    »Da, er stand die ganze Zeit hinter seinem Grab.«
    »Auch als ich gesungen habe?«, fragte Rike.
    »Natürlich auch dann.«
    Esko blieb vor meinem zugeschütteten Grab stehen. Noch lagen keine Blumenkränze drauf. Die Kränze standen unter dem Baum, an dem auch die Klappstühle lehnten.
    »Was hat Motte gesagt?«, fragte Esko.
    Lars wurde rot.
    »Da waren so viele Leute. Ich konnte ja schlecht hingehen und mit ihm plaudern. Außerdem habe ich versprochen, dass ich dich hole. Und außerdem …«
    Lars verstummte. Wer ihn lange genug kennt, weiß genau, was das heißt.
    Rike boxte ihm gegen die Schulter.
    »Lars, was noch? Spuck’s aus.«
    »Da waren diese zwei alten Damen und naja.«
    »Naja?«
    »Naja, ich glaube, es waren die Rentnerinnen aus dem Boot.«
    »Du glaubst das?«
    »Okay, ich glaube es nicht nur. Ich weiß es. Sie waren mit Mottes Großvater auf der Beerdigung und er … Naja, er war auch im Boot.«
    Esko begriff es. Ein Teil passte zum anderen.
    »Er ist Familie«, sagte Esko.
    »Klar, er ist ja der Groß –«
    »Nein, er und die alten Damen sind die Familie. Was ist dann passiert?«
    »Bevor das ganze Gerede losging, hatte der Großvater einen Herzkollaps und wurde weggetragen. Als ich dann nach der Beerdigung zu Motte wollte, standen die zwei alten Damen alleine vor dem Grab, da konnte ich mich ja schlecht dazustellen. Ich dachte, sie beten oder so. Also habe ich mir Rike geschnappt, und wir sind zum Bus gerannt, um dich zu holen.«
    Er hob die Schultern, mein Kumpel hatte sein Bestes getan.
    »Glaubst du, sie haben Motte mitgenommen?«, fragte er.
    Esko antwortete nicht. Er schnupperte in die Luft wie ein Jagdhund, dann ging er um mein Grab herum. Ich bin mir sicher, dass seine Wunde wehgetan haben muss, als er sich hinhockte und mit den Fingern durchs Gras fuhr. Er hielt seine Hand hoch, die Fingerspitzen waren blutig.
    »Sie haben ihn geerntet.«
    »Sie haben was ?!«, sagten Rike und Lars gleichzeitig.
    »Es ist ein altes Ritual. Schnell, wir brauchen einen Spaten!«
    Mit diesen Worten kniete sich Esko neben mein Grab und begann, mit den Händen zu graben. Rike rannte los, um Spaten zu suchen. Lars konnte sich nicht rühren.
    »Hilf mir!«, fuhr ihn Esko an.
    Lars sank neben ihm auf die Knie. Ich wusste genau, was im Kopf meines Kumpels vor sich ging. Er wollte fragen, was denn bitteschön Sie haben ihn geerntet genau hieß. Aber er hatte Angst vor der Antwort und griff mit beiden Händen in die weiche Erde und grub.
    Im Nachhinein kann ich mir eine Menge wünschen. Dass sie nie gekommen wären, dass Esko es nicht geschafft hätte, aus dem Bett zu steigen, dass Lars wieder davongerannt wäre.
    Im Nachhinein weiß man es immer besser.
    Die Erde war weich, Rike fand nur einen Spaten und reichte ihn Lars, Esko grub weiter mit den Händen. Er war wie ein tollwütiger Maulwurf, er war es auch, der als Erster auf mich traf.
    »Ich habe sein Bein.«
    Sie hörten auf zu graben, Lars warf den Spaten zur Seite und vorsichtig schoben sie die Erde um mich herum mit den Händen weg. Mein Körper wurde wie eine leblose Frucht aus dem Boden gehoben, sie wischten den Dreck von meinem Gesicht, dann küsste Rike meine Stirn und sagte, sie wäre so froh, mich wiederzuhaben. Es war so dramatisch, dass ich gelacht hätte, wenn es möglich gewesen wäre.
    »Wieso kann ich ihn sehen?«, fragte Rike.
    »Und wo sind seine Flügel?«, fragte Lars
    Esko drehte mich auf den Bauch, und sie sahen die Wunden, die Kolja zurückgelassen hatte. Eine Gartenschere ist kein chirurgisches Messer. Sie ist aber auf jeden Fall besser, als wenn jemand einem die Flügel ausreißt. Meine Wunden bluteten nicht mehr, der Erdboden hatte alles aufgesaugt.
    »Sie brauchten nur seine Flügel, mehr konnten sie nicht mit ihm anfangen«, sagte Esko und drehte mich wieder um. Er wischte mir den Dreck von den Augen und bat mich, ihn anzusehen. Er sagte es in einer Sprache, die Lars und Rike nicht verstanden. Ich hörte und begriff jedes Wort. Meine Augen blieben zu. Ich konnte nicht antworten oder mich bewegen, denn ich war nicht mehr.
    »Ich weiß, was du durchmachst«, sagte Esko.
    »Ich weiß, wie du dich fühlst«, sagte er.
    Rike suchte meinen Puls, es gab keinen Puls. Lars legte seine Hand auf meine Brust, als könnte er mir dadurch Energie schicken. Esko verstummte, es hatte keinen
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