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Der letzte Engel (German Edition)

Der letzte Engel (German Edition)

Titel: Der letzte Engel (German Edition)
Autoren: Zoran Drvenkar
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Schneefall.
    »Und jetzt?«, fragt Esko.
    »Du musst ihm sagen, was er zu tun hat«, sagt Mona.
    Der Rabe neigt den Kopf, als wüsste er, was kommt. Esko sagt ihm, was zu tun ist. Dann befiehlt er: »Flieg!« Der Rabe schüttelt sein Gefieder, stößt sich vom Tisch ab und verschwindet mit drei wuchtigen Schlägen seiner Schwingen in der Nacht.
    Esko schaut ihm hinterher.
    »Wie schlimm war es?«, fragt Mona.
    Es ist eine unnötige Frage. Sie hat es selbst durch seine Augen gesehen, ohne sie hätte er die Erinnerung nie betreten können. Esko steht auf. Er vermisst nicht die Schmerzen oder die Kälte. Er vermisst das Gewicht der Flügel auf seinem Rücken und die Vergangenheit, auch wenn er weiß, dass sie für ihn in den Tod führt.
    Und so bleiben sie eine Weile: Mona mit den Unterarmen auf dem Steintisch, wie sie Esko beobachtet, der auf das Meer hinausschaut. Er kann die toten Mädchen am Kiesstrand sitzen sehen. Sie könnten auch Felsen sein, denkt er, aber Felsen bringen keine Augen zum Tränen. Esko wendet den Blick ab und sagt:
    »Heißt er wirklich Motte?«
    »Er nennt sich so.«
    »Dummer Name.«
    »Wem sagst du das.«
    Sie lachen das erste Mal zusammen.
    »Wir sollten ihn warnen«, sagt Esko.
    »Glaubst du, es macht einen großen Unterschied?«
    »Vielleicht versteht er, warum wir es getan haben.«
    »Ja, vielleicht«, sagt Mona, ohne es wirklich zu glauben.
    Esko zeigt mit dem Daumen über seine Schulter.
    »Deine Schwestern warten.«
    Mona geht zum Wasser hinunter. Esko nimmt das Handy vom Steintisch. Natürlich weiß er, dass Motte ihnen niemals verzeihen wird. Niemand verzeiht es einem, wenn man ihm den Tod vorbeischickt. Aber wirklich niemand.

MOTTE
    D er letzte Engel auf Erden erwachte an einem Samstagnachmittag und wusste nicht, dass er der letzte Engel war. Bis zu diesem Tag wusste ich sehr wenig vom Leben. Ich kam jeden Morgen schwer aus dem Bett, schleppte mich durch den Tag und war erleichert, sobald es dunkel wurde. Licht gefiel mir nicht, ich saß lieber im Schatten und das hatte nichts mit Gothic oder Depression zu tun. Es hatte nur was mit mir zu tun.
    Und mein Name war nicht Gabriel, nicht Uriel oder Michael. Ich hieß Markus und wurde von meinen Freunden Motte genannt. Selbst mein Vater fand den Namen passend. Sobald die Dämmerung anbrach, floss mein Blut schneller, und die Trägheit in meinen Knochen löste sich auf. Sogar die Lehrer nannten mich Motte.
    Der Spitzname kam von meiner Mutter, mehr habe ich nicht von ihr behalten. Sie war mir eine Fremde, die nichts von der Narbe wusste, die sich quer über meinen Bauch zog, oder von dem Mädchen, in das ich mich in der sechsten Klasse verliebt hatte und wegen dem ich eines Tages vom Dach eines Hochhauses springen sollte. Meine Mutter konnte das alles nicht wissen, weil sie mich sitzen ließ, als ich neun Jahre alt war.
    Plötzlich wollte sie verreisen. Ich saß in meinem Zimmer, mein Vater war joggen und plötzlich wollte meine Mutter verreisen. Sie sagte, es wäre eine Überraschung für meinen Vater. Sie hatte sogar schon gepackt. Ich war sofort dabei, denn ich liebte Überraschungen, also klemmte ich mir einen Stapel Comics unter den Arm und rannte zum Auto. Vergesst nicht, ich war neun.
    Wir fuhren in Richtung Norden, an Lübeck vorbei und hoch nach Dänemark. Vier Tage schliefen wir in einem Ferienhotel, aßen im Restaurant und hatten Urlaub. Ich wusste, dass die Schulferien erst in sechs Wochen begannen, aber wer war ich, dass ich mich beschwerte. Und an keinem Tag sprachen wir über meinen Vater. Einmal fragte ich, wann er denn kommen würde. Meine Mutter brach in Tränen aus, drückte mich an sich und damit war das Thema gegessen.
    Am vierten Abend klingelte das Telefon und meine Mutter nahm es mit ins Bad. Hinter der verschlossenen Badezimmertür hörte ich sie flüstern. Dann kam sie wieder aus dem Bad und sagte, ich sollte mich schlafen legen, morgen wäre auch noch ein Tag. Sie steckte mich ins Bett, und ich durfte mir einen Comic aussuchen und so lange lesen, bis es zu Ende war, dann musste ich ihr versprechen, dass ich schlief.
    »Und du?«, fragte ich.
    »Ich geh noch ein wenig am Strand spazieren«, sagte meine Mutter, und das waren ihre letzten Worte an mich.
    Am nächsten Morgen kam mein Vater in das Hotelzimmer und tat so, als wäre das eine tolle Überraschung, mich in einem Hotelzimmer an der dänischen Küste vorzufinden. Wir fuhren nach Hause und alles nahm seinen normalen Lauf. Meine Mutter blieb einfach noch
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